a) Kollisionen von Kfz
aa) Verstöße
Die Missachtung des Vorfahrtsrechts begründet einen Anscheinsbeweis für die Unfallursächlichkeit zulasten des Vorfahrtspflichtigen. Wird dieser nicht durch einen atypischen Geschehensablauf erschüttert, kommt regelmäßig nur die Alleinhaftung des Vorfahrtsverletzers in Betracht (OLG Dresden, Beschl. v. 9.6.2021 – 4 U 296/21, zfs 2021, 613). Kommt es im Einmündungsbereich zur Kollision zweier Fahrzeuge, so haftet der Wartepflichtige i.d.R. allein, und zwar selbst dann, wenn der bevorrechtigte Linksabbieger beim Abbiegen zu einem geringen Teil die linke Fahrbahnseite mitbenutzt und in dieser Weise die Kurve schneidet (LG Hamburg, Urt. v. 8.2.2021 – 331 O 256/20, NZV 2021, 640 [Bachmor]). Das Vorrecht von Omnibussen des Linienverkehrs und Schulbussen beim Abfahren von gekennzeichneten Haltestellen gem. § 20 Abs. 5 StVO besteht nur unter den Voraussetzungen einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Anzeige gegenüber dem ansonsten fortbestehenden Vorrang des fließenden Verkehrs. Die Beweislast für die Inanspruchnahme des Vorrechts trägt derjenige, der sich auf dieses beruft. Erst wenn der Fahrer eines an einer Haltestelle haltenden Linienbusses bewiesen hat, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme seines Vorrechts vorgelegen haben, entfällt der Vorrang des fließenden Verkehrs und mit ihm der Anscheinsbeweis, der auf einen Verstoß gegen die in § 10 StVO normierten Sorgfaltsanforderungen schließen lässt (so OLG Celle, Urt. v. 10.11.2021 – 14 U 96/21, VRR 3/2022, 15 [Burhoff] entgegen KG Berlin, Beschl. v. 1.11.2018 – 22 U 128/17, NZV 2009, 27; DAR 2019, 83). Das OLG hat die Revision zugelassen.
Ereignet sich ein Verkehrsunfall im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem von dem einen Fahrzeugführer vorgenommenen Abbiegevorgang nach links, andererseits aber auch im gleichfalls unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem von dem anderen Fahrzeugführer durchgeführten Einfahrvorgang auf eine Bundesstraße, spricht gegen beide Fahrzeugführer jeweils ein Anscheinsbeweis, sodass sich im Ergebnis zwei Anscheinsbeweise gegenüberstehen mit der Folge, dass keiner der Anscheinsbeweise zur Anwendung zu bringen ist (Gedanke der „Neutralisierung”). Ist im Ergebnis von einem ungeklärten Verkehrsunfallgeschehen auszugehen, führt dies i.d.R. zu einer hälftigen Schadensverteilung (OLG Koblenz, Beschl. v. 15.9.2021 – 12 U 1039/21, NJW-RR 2022, 175; NZV 2022, 96 [Exter]). § 18 Abs. 3 StVO bezieht sich auf bauliche Gegebenheiten und setzt eine Einfädelspur und eine Fahrspur voraus. Ist dies der Fall, ist der Verkehr auf der Fahrspur gegenüber dem Verkehr auf der Einfädelspur bevorrechtigt. Dieses Vorrecht bleibt auch dann erhalten, wenn die Fahrzeuge auf der Fahrspur verkehrsbedingt zum Stehen kommen (OLG Celle, Urt. v. 23.6.2021 – 14 U 186/20, NJW-RR 2021, 1031; NZV 2022, 92 [Bachmor]). Wie ein „Idealfahrer” i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG verhält sich nicht, wer statt rechts links an einer Verkehrsinsel vorbei nach rechts abbiegt, um von dort sofort nach links auf einen Parkplatz einzubiegen. Ein solcher Ab- und Einbiegevorgang stellt auch einen Verstoß gegen § 2 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 StVO dar, selbst wenn es kein Zeichen 222 (Anlage 2 zu § 41 Abs. 1 StVO) gibt, dass nur eine Vorbeifahrt rechts von der Verkehrsinsel zulässt. Ein Verursachungsbeitrag des Unfallgegners lässt sich in einem solchen Fall hingegen grds. nicht damit begründen, er habe im konkreten Fall im Hinblick auf den eigenen Abbiegevorgang die zweite Rückschau nach § 9 Abs. 1 S. 4 Halbs. 2 StVO unterlassen können und müssen, um den falsch einbiegenden Gegenverkehr wahrzunehmen und dadurch den Unfall zu vermeiden (OLG Hamm, Beschl. v. 26.2.2021 – 7 U 16/20, NJW-RR 2021, 1545; NZV 2022, 95 [Hanke]). Ein Verkehrsteilnehmer muss mit einem Ausschwenken des Aufliegers eines aus dem Begegnungsverkehr abbiegenden Sattelzugs auf seine Fahrspur rechnen (OLG Hamm, Beschl. v. 16.6.2020 – 7 U 96/18, NZV 2021, 535 [Bachmor]).
Gemäß § 9 Abs. 5 StVO muss sich ein Fahrzeugführer beim Rückwärtsfahren so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Kommt es gleichwohl zu einer Kollision, spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein grds. Verschulden des Rückwärtsfahrenden. Kommt es zur Kollision zwischen einem Pkw, der aus einem Tankstellengelände in eine Straße einbiegen möchte, dabei schon teilweise in den fließenden Verkehr eingefahren ist, dann aber wieder zurücksetzt, um den Verkehrsraum freizugeben, und einem Teilnehmer des fließenden Verkehrs, der diesem zunächst das Vorrecht gewähren wollte, dann aber, als der Vorgang länger dauert, versucht, das Fahrzeug unter Inanspruchnahme des Gehwegs rückwärtig zu umfahren, ist eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zulasten des Rückwärtsfahrenden sachgerecht (OLG Celle zfs 2021, 677; NJW-RR 2021, 1116; NZV 2021, 533 [Bachmor]). Kollidieren auf einem Parkplatzgelände ein aus einer Parkbox in die Fahrgasse zurückstoßender Pkw und ein in der Fahrgasse mit Schritttempo rückwärtsf...