a) Standardisiertes Messverfahren
Die Grundsätze zum standardisierten Messverfahren und deren Auswirkungen auf das Bußgeldverfahren waren auch in diesem Berichtszeitraum Gegenstand von Entscheidungen. Dabei handelt es sich um ein durch Normen vereinheitlichtes technisches Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (BGHSt 39, 291; NJW 1993, 3081, 3083; BGHSt 43, 277; NJW 1998, 321, 322). Insofern gilt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ein: Ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler genügt das Gericht mit der Feststellung von Messverfahren und Toleranzabzug seiner Aufklärungs- und Darstellungspflicht (Regelfall). Anderes gilt nur bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für einen Messfehler (Ausnahme), wofür es regelmäßig konkreter, einer Beweiserhebung zugänglicher Einwände des Betroffenen bedarf. Im Grundsatz genügt im Urteil die Angabe des verwendeten standardisierten Messverfahrens und des abgezogenen Toleranzwertes. Der Bauartzulassung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) soll die Funktion eines antizipierten Sachverständigengutachtens zukommen.
b) Entscheidungen des BVerfG
Wie hier berichtet, hat sich das BVerfG wiederholt zu Fragen des Rechts auf Einsicht in Messunterlagen beschäftigt und dabei das Recht auf ein faires Verfahren betont (NJW 2021, 455 m. Anm. Ropertz; NZV 2021, 41 m. Anm. Krenberger; DAR 2021, 75 m. Anm. Kroll; Bespr. Niehaus VRR 1/2021, 4; Sandherr DAR 2021, 69; NJW 2021, 2272 [Ls.]; StRR 9/2021, 30; VRR 9/2021, 18 [jew. Burhoff]; NZV 2021, 377 [Sandherr]; DAR 2021, 385 m. Anm. Gratz; zfs 2021, 348). Dieser Anspruch erstreckt sich auch auf die Herausgabe von Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen (sog. Lebensakte; VerfGH Rheinland-Pfalz VRR 1/2022, 20,StRR 2/2022, 28 [jew. Niehaus]; NZV 2022, 43 [Krenberger]; SVR 2022, 73 [Scholz]).
Hinweis:
Aktuelle Entwicklungen zum Anspruch auf Einsicht in Messunterlagen im Bußgeldverfahren behandelt Ropertz NZV 2021, 500.
c) Reaktion der Fachgerichte
Die Fachgerichte sind dieser Vorgabe gefolgt. Das Gebot des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK) gebietet es, dass die Verwaltungsbehörde dem Verteidiger von Betroffenen oder einem von diesem beauftragten Sachverständigen nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen zur Verfügung stellt, die erforderlich sind, um die überprüfung zu ermöglichen. Darunter fällt regelmäßig auch die von dem betreffenden Messgerät am Messtag und Messort generierte Messreihe. Die Verteidigung von Betroffenen wird jedenfalls dann unzulässig beschränkt (§§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO), wenn schon bei der Verwaltungsbehörde und danach vor dem AG im Verfahren nach § 62 OWiG erfolglos ein auf Herausgabe dieser Unterlagen gerichteter Antrag gestellt und ein erneuter, in der Hauptverhandlung mit einem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens verbundener Antrag auf Einsichtnahme durch Beschluss des Gerichts zurückgewiesen wurde, sofern nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Urteil auf der rechtsfehlerhaften Ablehnung der Anträge beruht oder beruhen kann (OLG Stuttgart, Beschl. v. 3.8.2021 – 4 Rb 12 Ss 1094/21, NStZ-RR 2022, 60; zfs 2021, 647; VRR 9/2021, 25 [Deutscher]; bestätigt zum Einsichtsrecht in die Messreihe in zfs 2021, 709 m. Anm. Krenberger). Gegen die Ablehnung der Gewährung von Akteneinsicht im Verfahren gem. § 62 OWiG ist eine Beschwerde trotz § 305 S. 1 StPO zulässig (LG Hagen zfs 2021, 711). Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung bezüglich der Akteneinsicht in Unterlagen der Verwaltungsbehörde betreffend die verfahrensgegenständliche Messung ist unzulässig, da dem Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG dessen Subsidiarität (§ 23 Abs. 3 EGGVG) entgegensteht. Mit dem durch § 62 OWiG eröffneten Rechtsbehelf ist diesbezüglich eine abschließende Regelung getroffen worden (OLG Saarbrücken zfs 2022, 48). Es soll nach Ansicht des AG Meppen (zfs 2022, 169) weder ein Recht noch eine Verpflichtung der Verwaltungsbehörde existieren, die sich bei den Akten befindlichen Datenträger bzw. die darauf befindlichen Daten durch eine Umformatierung abzuändern.
Das OLG Zweibrücken (DAR 2021, 399; zfs 2021, 349; VRR 7/2021, 22 [Niehaus]) hat im Jahr 2021 einen Anspruch auf Einsicht in die gesamte Messreihe des Tattages abgelehnt (anders OLG Jena VRS 140, 33; VRR 5/2021, 19 [Niehaus]; NZV 2021, 331 [Krenberger]; ebenso OLG Stuttgart VRR 9/2021, 25 [Deutscher]) und dem BGH diese Frage zur Entscheidung vorgelegt. Das OLG Koblenz hat sich dem angeschlossen und die Frage ebenfalls dem BGH vorgelegt (VRR 3/2022, 29 [Niehaus]).
Durch die fehlende Speicherung sog. Rohmessdaten und Hilfsgrößen soll der Betroffene nicht in seinen Verteidigungsrechten unfair beeinträchtigt werden (Poliscan FM1, Softwareversion 4.4.9; so OLG Zweibrücken zfs 2022, 110.; a.A. AG Meiningen DAR 2021, 579 m. Bespr. Staub 596). Die Entscheidung des BVerfG über eine einschlägige Verfassungsbeschwerde (2 BvR 1167/20) steht noch aus. Eine Sondersituation ergibt sich all...