Der Nationale Normenkontrollrat hat im März ein Gutachten vorgelegt, in dem er die Systematik der Sozialleistungen in Deutschland scharf kritisiert. Sie sei verworren, intransparent und unnötig bürokratisch, befand das Gremium in seiner von Deloitte ausgearbeiteten Studie mit dem Titel „Wege aus der Komplexitätsfalle”. Der Nationale Normenkontrollrat (NKR) ist ein gesetzlich verankertes, unabhängiges Expertengremium, das die Bundesregierung berät; organisatorisch ist er beim Bundesministerium der Justiz angesiedelt.
Das Geflecht von Sozialleistungen, mit dem Familien konfrontiert seien, sei undurchsichtig und kompliziert, heißt es bereits im Vorwort der aktuellen Untersuchung des Normenkontrollrats. Sozialleistungen griffen vielfältig ineinander und seien unzureichend aufeinander abgestimmt. Zuständig seien diverse Stellen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Dies erzeuge Wechselbeziehungen und Anrechnungsverhältnisse, die Mehrfachprüfungen erforderlich machten. Die Intransparenz führe dazu, dass Leistungen ihre Zielgruppen häufig nicht erreichten, weil die Menschen sie schlicht nicht beantragen würden. Für diejenigen, die sie doch beantragten, bestehe ein hoher Aufwand. Aufgrund fehlender behördenübergreifender Prozesse und nicht harmonisierter rechtlicher Grundlagen müssten sie mehrere Anträge unabhängig voneinander bei verschiedenen Stellen einreichen und immer wieder die gleichen Angaben und Nachweise erbringen.
Dies erläutert die Studie anhand mehrerer lebenstypischer Fallbeispiele, darunter die „klassische Familie”, die „Patchworkfamilie” und die „Alleinerziehenden”. Bei allen kommen die Forscher zum Ergebnis, dass Anspruch auf mehrere Leistungen besteht, jeweils mehrere Behörden zuständig sind, bei denen die Anträge und Angaben jeweils zu wiederholen sind und dass die Leistungsberechnungen ausgesprochen komplex sind. Bei einem alleinerziehenden Vater (arbeitslos, minderjährige Tochter und pflegebedürftige Mutter im selben Haushalt) fällt der Befund der Forscher z.B. wie folgt aus (s. Gutachten, S. 43 f.):
Zitat
„Die Familie hat Anspruch auf acht Leistungen. Diese sind bei sechs verschiedenen Behörden getrennt voneinander zu beantragen. Dabei kommen drei verschiedene Einkommensbegriffe und drei unterschiedliche Definitionen der häuslichen Lebensgemeinschaft zum Tragen. Auch bei dieser Familie erfolgt eine umfangreiche Einzelfallberechnung in der jeweils zuständigen Behörde, da die Leistungen teilweise parallel aufeinander aufbauen. Durch gezahlte Vorschüsse kann es zu Nachberechnungen kommen. Aufgrund des monatlich schwankenden Einkommens der Eltern variieren die Leistungen, sodass monatlich eine Nachberechnung mit erheblichem behördlichem Aufwand und unter Vorlage der Einkommensnachweise zu erfolgen hat."
Diese Komplexität sei nicht nur für die Leistungsberechtigten kaum zu bewältigen, auch die staatlichen Stellen seien mit einem immensen Verwaltungsaufwand bei der Gewährung von Sozialleistungen konfrontiert. Überflüssige Doppelstrukturen, der zunehmende Personalmangel und neue krisenbedingte Herausforderungen würden die Verwaltung immer weiter an die Überlastungsgrenze bringen. Die Zukunftspotenziale von Digitalisierung und Automatisierung in der Sozialleistungsverwaltung seien zwar groß, könnten in dem derzeitigen komplexen und verflochtenen System allerdings kaum gehoben werden. Deshalb, so folgert der Normenkontrollrat, sei „der Erneuerungsbedarf inzwischen enorm”. Die Vorschläge der Experten für ein neues System der Sozialleistungen klingen denn auch wie das sprichwörtliche Durchschlagen des Gordischen Knotens: Anspruchsberechtigte sollten die Leistungen künftig möglichst antragslos erhalten. Dort, wo sie einen Antrag stellen müssen, sollte der Behördenkontakt digital über ein einziges föderales Portal oder persönlich über eine einzige örtliche Stelle ablaufen. In den Standardfällen des Leistungsbezugs sollte „pauschaliert und automatisiert” ausgezahlt werden.
Auf längere Sicht empfiehlt der NKR, eine noch grundlegendere Bündelung der Sozialleistungen anzugehen. Die bestehenden parallelen Grundsicherungssysteme sollten zu einem „konsistenten System” zusammengeführt werden, indem der alltägliche Bedarf von Volljährigen im Bürgergeld, der alltägliche Bedarf von Minderjährigen vollständig in einer Kindergrundsicherung und der Bedarf auf Haushaltsebene vollständig im Wohngeld abgedeckt werde. Keine der Leistungen enthielte dann Kostenanteile der anderen Bedarfe. Die 120-seitige Studie des Normenkontrollrats zu den Sozialleistungen kann unter https://www.normenkontrollrat.bund.de/Webs/NKR/SharedDocs/Downloads/DE/Gutachten/2024-nkr-sozialleistungsgutachten.html heruntergeladen werden.
[Quelle: NKR]