Normzweck von § 43a Abs. 4 BRAO ist der Schutz des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Rechtsanwalt und Mandant, die Wahrung der anwaltlichen Unabhängigkeit und das Gemeinwohlinteresse an einer funktionierenden Rechtspflege, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Zuverlässigkeit der Anwaltschaft voraussetzt. Diese Ziele setzen zwingend voraus, dass ein Rechtsanwalt nur einer Seite dient (BT-Drucks 12/4993, S. 27). Das aus § 43a Abs. 4 BRAO folgende Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen (sog. Prävarikation) stellt eine der tragenden Säulen des Anwaltsberufs dar, da bei einem Verstoß neben berufsrechtlichen Sanktionen (§ 43a Abs. 4 BRAO, § 3 BORA) auch eine Strafbarkeit nach § 356 StGB als sog. Parteiverrat in Betracht kommt (vgl. hierzu Dahns, NJW-Spezial 2019, 190).
Trotz einiger Unklarheiten in Detailfragen besteht nach h.M. weitgehend Einigkeit darüber, dass trotz des unterschiedlichen Wortlauts, Schutzrichtung und objektiver Tatbestand von § 43a Abs. 4 BRAO und § 356 StGB die beiden Regelungen deckungsgleich sind und es dem Rechtsanwalt untersagen, in derselben Rechtssache zwei oder mehr Parteien im widerstreitenden Interesse zu beraten oder zu vertreten (Peitscher, Anwaltsrecht, 3. Aufl. 2021, § 18 Rn 240; Henssler/Prütting/Henssler, 6. Aufl. 2024, § 43a BRAO Rn 357 ff.; a.A. Weyland/Bauckmann, 11. Aufl. 2024, § 43a BRAO Rn 54, der von einem weiteren Anwendungsbereich von § 43a Abs. 4 BRAO ausgeht). Der subjektive Tatbestand der beiden Normen ist insoweit verschieden, als dass § 356 StGB dolus eventualis voraussetzt und § 43a Abs. 4 BRAO auch bei fahrlässiger Begehungsweise einschlägig ist, vgl. § 113 Abs. 1 BRAO. Zudem gilt § 356 StGB nicht sozietätsweit, wohingegen § 43a Abs. 4 BRAO nach § 3 Abs. 2 und 3 BORA auch die anwaltlichen Mitglieder einer Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft erfasst.
Durch die BRAO-Reform zum 1.8.2022 ist § 43a Abs. 4 BRAO grundlegend verändert worden, ohne inhaltlich wirklich etwas an der Rechtslage zu verändern. Dies geschah dadurch, dass der bisherige § 3 BORA nun teilweise (Abs. 1 S. 1, Abs. 2 und 3) in § 43a Abs. 4 BRAO aufgenommen wurde. § 43a Abs. 5 BRAO n.F. enthält entsprechende Regelungen für Referendare, § 43a Abs. 6 BRAO n.F. erweitert das Tätigkeitsverbot auf berufliche Tätigkeiten außerhalb einer Berufsausübungsgesellschaft. Die § 43a Abs. 5 und 6 BRAO a.F. wurden zu § 43a Abs. 7 und 8 BRAO n.F. Weitere Aspekte der Problematik widerstreitender Interessen sind weiterhin in § 3 BORA n.F. geregelt (zutreffend Weyland/Bauckmann, 11. Aufl. 2024, § 43a BRAO Rn 54a).
aa) Vorliegen derselben Rechtssache
Seit der Neufassung von § 43a Abs. 4 BRAO ist dieses Tatbestandsmerkmal ausdrücklich aufgenommen, zuvor war es nur in §§ 356 StGB, 3 BORA enthalten und musste hineingelesen werden. Eine Rechtssache ist jede rechtliche Angelegenheit, die zwischen mehreren Beteiligten mit regelmäßig entgegenstehenden Interessen nach Rechtsgrundsätzen behandelt und erledigt werden soll (BGH, Urt. v. 25.6.2008 – 5 StR 109/07, NJW 2008, 2723). Dieselbe Rechtssache liegt vor, wenn den jeweiligen Rechtssachen ein einheitlicher historischer Vorgang zugrunde liegt, bei vorzunehmender natürlicher Betrachtungsweise ein innerlich zusammengehöriges, einheitliches Lebensverhältnis gegeben ist (BGH, Urt. v. 23.4.2012 – AnwZ (Brfg) 35/11, AnwBl. 2012, 769). Sobald ein dem Rechtsanwalt im Rahmen seines Mandatsvertrags anvertrauter Verfahrensstoff bei einem anderen Auftrag zumindest teilweise erneut eine rechtliche Bedeutung erlangt, ist dieselbe Rechtssache betroffen (BGH, Urt. v. 23.4.2012 – AnwZ (Brfg) 35/11, AnwBl. 2012, 769). Typischerweise begründen Dauerschuldverhältnisse jeglicher Art (z.B. Miete oder Arbeitsvertrag) einen einheitlichen Lebenssachverhalt. Fehlt es an einer Teilidentität der Lebenssachverhalte, trifft den Anwalt jedoch nach BGH eine vorvertragliche Aufklärungspflicht gegenüber dem neuen Mandanten, diesen auf die Vorbefassung für einen Dritten oder die Gegenseite hinzuweisen (BGH, Urt. v. 19.9.2013 – IX ZR 322/12, NJW 2013, 3725). Dieser Pflicht wird der Rechtsanwalt aufgrund seiner Schweigepflicht aus dem Vormandat aber nur dann nachkommen können, wenn eine entsprechende Schweigepflichtsentbindung vorliegt. Ohne diese wird der Rechtsanwalt das neue Mandat nur ablehnen können, um einer möglichen Haftung zu entgehen (Peitscher, Anwaltsrecht, 3. Aufl. 2021, § 18 Rn 247).
bb) Beratung oder Vertretung im widerstreitenden Interesse
Ein Interessenwiderstreit liegt vor, wenn die Interessen der Parteien, die der Anwalt in derselben Rechtssache berät und/oder vertritt, ganz oder teilweise gegensätzlich sind. Umstritten ist, ob dieser Interessengegensatz nach objektiven oder nach subjektiven Kriterien der Mandanten zu ermitteln ist (vgl. hierzu Peitscher, Anwaltsrecht, 3. Aufl. 2021, § 18 Rn 249 ff.). Nach zutreffender h.M. in Literatur und Rechtsprechung, jedenfalls soweit es den Anwaltssenat des BGH betrifft, ist eine konkret-objektive Auslegung vorzunehmen. Es ist also zu prüfen, ob die Interessen der Parteien in der jeweiligen Fallkonstellation grundsätzlich k...