Zusammenfassung
Der zweiteilige Beitrag gibt eine umfassende Übersicht über die grundlegenden Rechte und Pflichten eines Rechtsanwalts. Teil 1 des Beitrags erläutert die rechtliche Stellung des Rechtsanwalts im Hinblick auf seine allgemeinen Berufspflichten sowie seine berufsrechtlichen Grundpflichten (ZAP 331, 2024). Im nachfolgenden Teil 2 liegt der Schwerpunkt auf den besonderen Berufspflichten.
II. Die allgemeinen Berufspflichten und Grundpflichten des Rechtsanwalts
3. Das Sachlichkeitsgebot, § 43a Abs. 3 BRAO
Als Ausfluss der Organeigenschaft der Rechtspflege ist jeder Rechtsanwalt zu einer rationalen Wahrnehmung des konkreten Sachinteresses seines Mandanten verpflichtet. Sachlichkeit ist in diesem Sinne das Kennzeichen professioneller, von emotionalen Befindlichkeiten unbeeinflusster anwaltlicher Arbeit (Henssler/Prütting/Henssler, 6. Aufl. 2024, § 43a BRAO Rn 174). Daher reicht es für einen Verstoß nicht aus, dass der Rechtsanwalt in seinen Äußerungen gegen den guten Ton verstößt, unfreundlich und ohne Taktgefühl agiert und in Art und Weise als ungehörig von seinem Mandanten wahrgenommen wird (BVerfG, Beschl. v. 15.4.2008 – 1 BvR 1793/07, AnwBl. 2008, 463). Ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot ist vielmehr erst dann gegeben, wenn es sich um strafrechtlich relevante Beleidigungen oder die bewusste Verbreitung von Unwahrheit handelt oder die Grenze der sog. Schmähkritik in Bezug auf Werturteile erreicht ist (BVerfG, Beschl. v. 29.6.2016 – 1 BvR 2646/15, AnwBl. 2016, 765).
a) Strafbare Beleidigungen
Eine Verletzung des Sachlichkeitsgebot ist immer dann gegeben, wenn ein Tatbestand der §§ 185 ff. StGB verwirklicht wird, ohne dass die Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB Anwendung findet (BVerfG, Beschl. v. 14.7.1993 – 1 BvR 126/91, AnwBl. 1993, 632). Die Rechtfertigungsgründe des § 193 StGB sind uneingeschränkt auf die berufsrechtliche Bewertung anwaltlichen Verhaltens anzuwenden (AGH Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 4.6.2018 – 2 AGH 2/18, AnwBl. 2018, 617). Eine sog. beleidigungsfreie Sphäre des Rechtsanwalts gegenüber seinem Mandanten ist – anders als bei Äußerungen gegenüber engen Familienangehörigen – nach zutreffender Auffassung jedenfalls dann nicht mehr gegeben, sofern eine Formalbeleidigung mit strafrechtlicher Relevanz vorliegt (OLG Hamburg, Urt. v. 23.1.1990 – 2 Ss 103/89, NStZ 1990, 237).
b) Bewusste Verbreitung von Unwahrheiten
Das Sachlichkeitsgebot enthält auch das Verbot der Lüge, sodass § 43a Abs. 3 S. 2 Alt. 1 BRAO das berufsrechtliche Pendant zur zivilprozessualen Wahrheitspflicht nach § 138 Abs. 1 ZPO ist. Die Wahrheitspflicht des Rechtsanwalts gründet sich in seiner Stellung als Organ der Rechtspflege. Da der Anwalt aufgrund seiner Organstellung verpflichtet ist, an der Verwirklichung der Rechtspflege mitzuwirken, ist er bei seiner Berufsausübung insgesamt an das zentrale Verfahrensziel der Wahrheitsfindung gebunden. Das Verbot der bewussten Verbreitung von Unwahrheiten gilt gegenüber jedermann. Auch gegenüber der gegnerischen Partei, wenn der Rechtsanwalt behauptet, seine Sozietät bzw. Berufsausübungsgesellschaft sei in einer Angelegenheit nicht mehr tätig, obwohl intern die weitere Mandatsbearbeitung durch eine Kanzleikollegin erfolgt, nicht nur gegenüber Gerichten und Behörden und auch in eigenen Sachen. Dem Rechtsanwalt sind auch keine „Notlügen” gestattet, um so eine Verurteilung seines Mandanten zu vermeiden, selbst wenn der Mandant sonst zu Unrecht verurteilt zu werden droht. Eine Klageerhebung im Namen eines bereits verstorbenen Mandanten und das prozessuale Bestreiten dieses Umstands verstößt gegen das Sachlichkeitsgebot (so explizit Weyland/Bauckmann, 11. Aufl. 2024, § 43a BRAO Rn 38 m.w.N.).
Es ist insoweit anerkannt, dass die Wahrheitspflicht es nicht ausschließt, trotz Kenntnis der Tatschuld einen Angeklagten mit dem Ziel des Freispruchs zu verteidigen, sodass der Rechtsanwalt z.B. den Mandanten belastende Umstände verschweigen darf, es sei denn, die Wahrheit wird damit eindeutig verfälscht (BGH, Urt. v. 11.3.1952 – 1 StR 296/51, BeckRS 1952, 30387982). Nach überwiegender Auffassung ist direkter Vorsatz im Sinne eines „wider besseren Wissens” bzw. „wissentlich” handelnden Rechtsanwalts erforderlich, sodass dolus eventualis nicht ausreichend ist (Peitscher, Anwaltsrecht, 3. Aufl. 2021, § 18 Rn 231 m.w.N. auch zur Gegenauffassung). Daher trifft den Rechtsanwalt auch keine Aufklärungspflicht bei zweifelhaften Aussagen des Mandanten oder unklaren Sachverhalten.
c) Herabsetzende Äußerungen ohne Anlass
Herabsetzende Äußerungen, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlass gegeben haben, sind nur dann berufsrechtlich ahndbar, wenn sie strafrechtlich die Schwelle der Beleidigung überschreiten. Äußerungen, die strafrechtlich nicht zu beanstanden sind, sind demnach auch berufsrechtlich hinzunehmen (AGH Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 1.10.2021 – 2 AGH 2/21, BeckRS 2021, 35845). Auch hier ist in jedem Einzelfall zu prüfen, inwieweit der Rechtsanwalt in Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB tätig wurde und er auf die Richtigkeit der vom Mandanten mitgeteilten Informationen vertrauen durfte, wobei als absolute Grenze die Schmähkritik zu nennen ist (Fischer, 71. Aufl. 2024, § ...