a) Standardisiertes Messverfahren
Die langjährige Diskussion zu standardisierten Messverfahren und deren Auswirkungen auf das Bußgeldverfahren hat sich deutlich beruhigt. Dabei handelt es sich um ein durch Normen vereinheitlichtes technisches Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (BGH, Urt. v. 19.8.1993 – 4 StR 627/92, BGHSt 39, 291 = NJW 1993, 3081, 3083; BGH, Beschl. v. 30.10.1997 – 4 StR 24/97, BGHSt 43, 277 = NJW 1998, 321, 322). Insofern gilt ein Regel-Ausnahme-Verhältnis: Ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler genügt das Gericht mit der Feststellung von Messverfahren und Toleranzabzug seiner Aufklärungs- und Darstellungspflicht (Regelfall). Anderes gilt nur bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für einen Messfehler (Ausnahme), wofür es regelmäßig konkreter, einer Beweiserhebung zugänglicher Einwände des Betroffenen bedarf. Im Grundsatz genügt im Urteil die Angabe des verwendeten standardisierten Messverfahrens und des abgezogenen Toleranzwertes. Der Bauartzulassung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) soll die Funktion eines antizipierten Sachverständigengutachtens zukommen (zu deren Rolle aus verfassungsrechtlicher Sicht Brenner, DAR 2023, 670).
b) Auswirkung der Entscheidungen des BVerfG
Das BVerfG hat sich wiederholt zu Fragen des Rechts auf Einsicht in Messunterlagen beschäftigt und dabei das Recht auf ein faires Verfahren betont (BVerfG, Beschl. v. 28.4.2021 – 2 BvR 1451/18, NJW 2021, 455 = NJW 2021, 2272 [Ls.]; BVerfG, Beschl. v. 4.5.2021 – 2 BvR 868/20, DAR 2021, 385). Das BVerfG hat sich in den o.g. Entscheidungen nicht dazu geäußert, ob es erforderlich ist, dass das eingesetzte Messgerät die Messdaten speichert. Eine einschlägige Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch fehlende Rohmessdaten hat das BVerfG mangels hinreichender Substantiierung nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG, Beschl. v. 20.6.2023 – 2 BvR 1167/20, NJW 2023, 2932 = NStZ 2024, 42 m. Anm. Krenberger = DAR 2023, 446 m. abl. Anm. Niehaus = NZV 2023, 414 m. Anm. Sandherr = StRR 8/2023, 34 = VRR 8/2023, 29 [jew. abl. Niehaus]) und sich dabei in einem obiter dictum eher skeptisch geäußert. Zur Frage des Rechts auf Einsicht in die gesamte Messreihe hat der BGH (Beschl. v. 16.3.2023 – 4 StR 84/22, NStZ 2023, 619 = DAR 2023, 395 m. Anm. Weigel = VRR 7/2023, 26 [Niehaus] = NZV 2023, 521 [Sandherr]) eine Vorlage des OLG Koblenz verworfen. Die Frage bleibt weiter in der Schwebe. Anders als das OLG Köln (Beschl. v. 30.5.2023 – 1 RBs 288/22, VRR 10/2023, 25 [Niehaus]) sieht das OLG Oldenburg (Beschl. v. 9.11.2023 – 2 ORbs 188/23 (785 Js 27970/23), DAR 2024, 102 = VRR 2/2024, 22 [Niehaus]) in der Nichtherausgabe der Messreihe des Tattages keinen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren (zur Verteidigungsrelevanz der gesamten Messreihe Gratz, NZV 2024, 65).
Die Verwaltungsbehörde hat dem Verteidiger der Betroffenen oder einem von diesem beauftragten Sachverständigen auf seinen Antrag sämtliche, auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Messunterlagen einschließlich Token zur Verfügung zu stellen, die erforderlich sind, um der Betroffenen zu ermöglichen, die Berechtigung des auf das Ergebnis eines (standardisierten) Messverfahrens gestützten Tatvorwurfs mit Hilfe eines Sachverständigen selbstständig zu überprüfen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 22.8.2023 – 1 ORbs 34 Ss 468/23, DAR 2023, 580 = VRR 10/2023, 23 [Niehaus]; s. auch LG Kiel, Beschl. v. 27.6.2023 – 2 Qs 78/22, DAR 2023, 586). Wird nach Erlass des Bußgeldbescheides und vor Übersendung der Akten an das AG ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG gestellt, unterbricht die Übersendung der Akten an das AG zwecks Entscheidung über den Antrag die Verfolgungsverjährung nach § 33 Abs. 1 Nr. 10 OWiG nicht (KG, Beschl. v. 14.6.2023 – 3 ORbs 108/23, DAR 2023, 578 = zfs 2023, 649 = NZV 2023, 571 [van Endern]; allg. zur Verjährungsunterbrechung Fromm, DAR 2024, 71). Dem als Zeuge in einem Bußgeldverfahren befragten Fahrzeughalter steht regelmäßig auch über einen beauftragten Rechtsanwalt kein Anspruch auf Akteneinsicht in die Ermittlungsakte zu (AG Eilenburg, Beschl. v. 30.8.2023 – 8 OWi 510/23, zfs 2024, 51).
c) Einzelne Messverfahren und Auswertung
Die Geschwindigkeitsfeststellung durch nachträgliche Auswertung eines ProViDa-Videos und Bestimmung der Geschwindigkeit anhand einer nachträglich frei anhand des Videos gewählten Messstrecke durch nachträgliche Weg-Zeit-Berechnung ist anerkannt, auch wenn sie kein standardisiertes Messverfahren darstellt (AG Dortmund, Urt. v. 14.2.2023 – 729 OWi-264 Js 110/23 -12/23, DAR 2023, 713 = NZV 2023, 573 [Balschun]). Eines förmlichen Schulungsnachweises bedarf es für die Auswertungsperson nicht zwingend, weil diese das Messgerät nicht bedient und Beweismittel weder schafft noch verändert. Ob die mit der Auswertung der Messdaten betraute Person ihre Aufgabe kompetent und zuverlässig erfüllt hat, unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung und hat – im Gr...