Die Geschwindigkeitsüberschreitung kann gerechtfertigt sein (vgl. dazu eingehend Burhoff VA 2005, 162 und Burhoff/Burhoff, OWi, Rn. 2384 ff. und Blum NZV 2011, 378; s.a. noch Krumm DAR 2012, 606). In Betracht kommen die allgemeinen Rechtfertigungsgründe, wobei vor allem der rechtfertigende Notstand besondere Bedeutung hat. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass durch die Geschwindigkeitsüberschreitung andere nicht unverhältnismäßig gefährdet werden dürfen (BayObLG NZV 1991, 81). Erforderlich ist die Geschwindigkeitsüberschreitung, wenn die – abzuwendende – Gefahr nicht auf andere, die Allgemeinheit weniger gefährdende Weise beseitigt werden kann (OLG Hamm NZV 1997, 186).
Im Einzelnen können folgende Umstände zur Rechtfertigung in Betracht kommen:
- Geschwindigkeitsüberschreitung eines Arztes, der als Notarzt Hilfe leisten muss (vgl. u.a. OLG Karlsruhe VA 2005, 15 = NZV 2005, 54; OLG Köln DAR 2005, 574 = zfs 2005, 468; OLG Schleswig SchlHA 2005, 264), wobei sich dann aber aus dem Urteil ergeben muss, dass wirklich ein Notfall vorgelegen hat (vgl. eingehend dazu OLG Köln a.a.O.),
- Gesundheitsgefahren für den Betroffenen bzw. für Dritte, wie z.B. bei einer hochschwangeren Frau (vgl. OLG Düsseldorf DAR 1995, 168; OLG Hamm zfs 1996, 77), ggf. der Vater für den kranken Sohn (OLG Karlsruhe zfs 2005, 517 = NZV 2005, 542 = NJW 2005, 3158 = DAR 2005, 644, ähnlich AG Bad Salzungen zfs 2008, 168 (allerdings Annahme von Augenblicksversagen), nicht aber allein die Sorge des Betroffenen um seine im Pkw mitfahrende hochschwangere Ehefrau (OLG Karlsruhe DAR 2002, 229), oder eine gestürzte Mutter (OLG Celle VRR 2015, Nr. 4, 15–16),
- Gefahrenabwehr, wie z.B. das Nachfahren, um einen anderen Verkehrsteilnehmer auf eine von seinem Fahrzeug ausgehende Gefährdung aufmerksam zu machen (OLG Köln NZV 1995, 119),
- ggf. Stuhldrang (KG, Beschl. v. 26.10.1998 – 2 Ss 263/98; OLG Düsseldorf VA 2008, 15 [Ls.] = zfs 2008, 168; OLG Zweibrücken zfs 1997, 196 = NStZ-RR 1997, 379; Burhoff/Burhoff, OWi, Rn. 2384; s.a. VA 2005, 162; s. aber OLG Hamm, Beschl. v. 3.8.2004 – 4 Ss OWi 464/04 und OLG Schleswig SchlHA 2006, 295), aber wohl nicht, wenn der Betroffene sich dahin eingelassen hat, er habe bereits vor Erreichen einer Geschwindigkeitsbegrenzungszone Probleme in seinem Darm wahrgenommen, unter denen er bereits seit geraumer Zeit leide (AG Lüdinghausen VA 2014, 82 = DAR 2014, 217 = VRR 2014, 196 = NZV 2014, 481),
- Inanspruchnahme von Sonderrechten durch Angehörige von Hilfsorganisationen, und zwar ggf. schon auf dem Weg zum Einsatz (OLG Stuttgart DAR 2002, 366; NZV 2003, 410; a.A. OLG Frankfurt/M. NZV 1992, 334; vgl. auch AG Riesa DAR 2005, 109),
- nicht allein die drohende Niederkunft der Ehefrau, wenn der Betroffene durch einen Anruf weiß, dass diese sich in ärztlicher Obhut befindet (OLG Hamm VRR 2009, 34),
- nicht zur Abwendung befürchteter Verunreinigung des Fahrgastraums durch Erbrechen (OLG Bamberg DAR 2014, 394 = zfs 2014, 650 [schon nicht das zur Gefahrenabwehr geeignete Mittel]).
Hinweis:
In diesen Fällen sind entsprechende Feststellungen im Urteil erforderlich (OLG Karlsruhe zfs 2005, 517 = NZV 2005, 542 = NJW 2005, 3158 = DAR 2005, 644; OLG Hamm zfs 1996, 154). Hat der Betroffene sich "nur eine Situation vorgestellt", die ggf. die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes erfüllt, kann er sich in einem Verbotsirrtum befinden, der dann das Absehen vom Fahrverbot rechtfertigt (OLG Köln und OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Celle, Beschl. v. 1.10.2014 – 321 SsBs 60/14).
Autor: Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
ZAP 12/2015, S. 657 – 672