1. U-Haft, einstweilige Unterbringung und Sicherungsverwahrung
Die Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO erfolgt – wie früher nach § 117 Abs. 4 und 5 StPO a.F. – nur bei U-Haft i.S.v. §§ 112, 112a StPO (dazu Burhoff, EV, Rn 3695 ff.), bei einstweiliger Unterbringung nach § 126a StPO (dazu Burhoff, EV, Rn 1859) bzw. gem. § 275a Abs. 5 StPO in den Fällen der Entscheidung über die vorbehaltene oder nachträgliche Sicherungsverwahrung.
Alle anderen Fälle von Haft werden von der Regelung nicht erfasst, da es sich dabei nicht um U-Haft handelt. Das gilt also für
- die Auslieferungshaft (krit. Schomburg/Lagodny NJW 2012, 348, 349, 352 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 140 Rn 14 [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]),
- die Haft, die infolge des Ausbleibens des Angeklagten in der HV nach §§ 230 Abs. 2, 329 Abs. 4 StPO (vgl. dazu Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 691 ff.; 3661 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV]) angeordnet wird,
- die Hauptverhandlungshaft nach § 127b Abs. 2 StPO (dazu Burhoff, EV, Rn 2249),
- die Strafhaft,
- die Sicherungshaft nach § 453c Abs. 1 StPO (s. aber AG Aschersleben StV 2010, 493 [Ls.], das die Regelung im Hinblick auf die Grundlage für einen Sicherungshaftbefehl [§ 112 Abs. 2 Nr. und 2 StPO] entsprechend anwendet),
- die Erzwingungshaft und/oder
- die Ordnungshaft nach § 70 StPO.
2. Erfasste Verfahren
Umstritten ist in Rechtsprechung und Literatur die Frage, ob sich § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auf alle gegen einen Beschuldigten geführte Verfahren bezieht, ohne dass es darauf ankommt, in welchem der Verfahren U-Haft vollstreckt wird, oder ob es nur in dem Verfahren gilt, in dem die U-Haft vollzogen wird. Die wohl h.M. geht unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Regelung zutreffend davon aus, dass die Vorschrift auch für andere Verfahren, in denen gegen den inhaftierten Beschuldigten U-Haft vollstreckt wird, gilt (OLG Frankfurt StV 2011, 218 m. zust. Anm. Burhoff StRR 2011, 23; OLG Hamm StV 2014, 274; LG Frankfurt/M. StV 2013, 19 [Ls.]; LG Heilbronn StV 2011, 222; LG Itzehoe StV 2010, 562; LG Köln NStZ 2011, 56; LG Nürnberg-Fürth StV 2012, 658; LG Stade StV 2011, 663 [Ls.]; LG Trier StRR 2015, 347; einschränkend LG Bonn NStZ-RR 2012, 15 m. zust. Anm. Heydenreich StRR 2012, 103 [nur, wenn in dem anderen Verfahren gegen den Beschuldigten auch tatsächlich ermittelt wird]; ähnlich LG Halle, Beschl. v. 18.1.2016 – 3 Qs 2/16); Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn 14; Brocke/Heller StraFo 2011, 1, 8; Jahn a.a.O., S. 275, 282; vgl. auch Wohlers StV 2010, 151, 152). Die Gegenmeinung verweist u.a. auf die unberührt gebliebene Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO, woraus folge, dass § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO nicht für alle Fälle von U-Haft gelte (vgl. LG Oldenburg ZJJ 2011, 461; LG Saarbrücken StRR 2010, 308; Busch NStZ 2011, 663; Peters/Krawinkel StRR 2011, 4). Im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Regelung, möglichst frühzeitig in den Fällen der U-Haft die ordnungsgemäße Verteidigung des Beschuldigten sicherzustellen (vgl. dazu BT-Drucks 16/13097, S. 19), ist der h.M. der Vorzug zu geben (s. auch Burhoff StRR 2011, 448, 449). Denn das Argument gilt auch, wenn U-Haft in einem anderen Verfahren vollzogen wird. Auch dann sind die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten eingeschränkt (s. auch Brocke/Heller a.a.O.; D. Herrmann StraFo 2011, 133, 136).
Hinweis:
Unabhängig von der Frage, ob nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO beigeordnet werden muss, wird sich in den Fällen immer (auch) die Frage stellen, ob nicht ein Pflichtverteidiger nach den "allgemeinen" Gründen des § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen ist, so z.B. wegen der Schwere der Tat oder wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung (Burhoff, EV, Rn 2871 ff.; Rn 2901 ff.).
3. Nach Beginn der Vollstreckung
a) Zeitlicher Anwendungsbereich
§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO i.V.m. § 141 Abs. 3 S. 4 StPO sieht vor, dass dem Beschuldigten nach Beginn der Vollstreckung von U-Haft gem. §§ 112, 112a StPO oder einstweiliger Unterbringung gem. §§ 126a, 275 Abs. 5 StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist. Die Regelung über den Zeitpunkt für die Bestellung ist in § 141 Abs. 3 S. 4 StPO enthalten. Obwohl § 141 Abs. 3 StPO regelt, wann im Vorverfahren ein Pflichtverteidiger bestellt werden kann, gilt die Vorschrift für das gesamte Verfahren und nicht etwa nur für Ermittlungsverfahren. Dort liegt zwar ihr überwiegender Anwendungsbereich. Die Vorschrift gilt darüber hinaus aber auch in allen andern Fällen, in denen im Strafverfahren U-Haft vollstreckt wird, also auch, wenn der Beschuldigte sich nicht von Anfang an in U-Haft befunden hat, sondern es erst im Laufe des Verfahrens zur Inhaftierung kommt. Sie gilt auch, wenn der Beschuldigte im Verlauf der Hauptverhandlung oder an deren Ende inhaftiert wird. Sie findet auch nicht nur bei "erstmaliger U-Haft" Anwendung, sondern auch dann (wieder), wenn der Beschuldigte nach zwischenzeitlicher Haftentlassung später (wieder) inhaftiert wird (OLG Düsseldorf NJW 2011, 1618 = StraFo 2011, 275 = StRR...