I. Einleitung
Am 26.6.2017 wird die bereits am 20.5.2015 in Kraft getretene reformierte Europäische Insolvenzordnung, Verordnung Nr. 848/2015 (im Folgenden: EuInsVO), gem. Art. 92 S. 2 Geltung für alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft mit Ausnahme Dänemarks erlangen.
Hinweis:
Die Verordnung findet nur auf solche Insolvenzverfahren Anwendung, die nach dem 26.6.2017 eröffnet worden sind (Art. 84 Abs. 1 EuInsVO).
Damit haben jahrelange Reformarbeiten ihren Abschluss gefunden, die sich in einem auf 89 Erwägungsgründe und 92 Artikel angewachsenen Regelungswerk widerspiegeln. Die neue Verordnung, die nach Art. 288 AEUV unmittelbar in Deutschland gilt, wird die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren ersetzen, die seit dem 31.5.2002 in Kraft ist. Übergeordnetes Ziel der neuen Verordnung ist es, eine noch effizientere Abwicklung grenzüberschreitender Insolvenzverfahren zu ermöglichen (Erwägungsgrund Nr. 1). Dazu sollen eine Erweiterung des Anwendungsbereichs (Art. 1 EuInsVO), ergänzte Regelungen zur internationalen Zuständigkeit und zum COMI (Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen) sowie neue Vorschriften zur Vermeidung von missbräuchlichem "forum shopping" beitragen. Um die Sanierungschancen von Unternehmen zu erhöhen, muss das Sekundärinsolvenzverfahren nicht mehr zwingend ein Liquidationsverfahren sein. Störende Sekundärinsolvenzverfahren soll der Insolvenzverwalter des Hauptverfahrens dadurch verhindern können, dass er gegenüber lokalen Gläubigern Zusicherungen abgibt, dass ihre lokalen Rechte gewahrt bleiben (Art. 36 EuInsVO). Neu sind die Einrichtung eines europaweit vernetzten Insolvenzregisters (Art. 24 ff. EuInsVO) sowie das Kapitel zur Konzerninsolvenz mit Vorschriften zur grenzüberschreitenden Kooperation von Insolvenzgerichten und Insolvenzverwaltern verschiedener insolventer Gruppengesellschaften (Art. 56 ff. EuInsVO) und zum neuen Koordinationsverfahren (Art. 61 ff. EuInsVO).
II. Erweiterung des Anwendungsbereichs
Aufgrund des geänderten Art. 1 Abs. 1 erfasst der sachliche Anwendungsbereich der EuInsVO öffentliche Gesamtverfahren, die auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen zur Insolvenz stattfinden, deren Zweck in der Rettung, Schuldenanpassung, Reorganisation oder Liquidation besteht und bei denen einer der Tatbestände der lit. a bis lit. c erfüllt ist. Einbezogen sind nunmehr auch vorinsolvenzliche Verfahren und Verfahren in Eigenverantwortung (verwalterlose Restrukturierungsverfahren und verwalterlose Restschuldbefreiungs- und Schuldenanpassungsverfahren für natürliche Personen, sog. Hybridverfahren).
Hinweis:
Die erschöpfende Aufzählung in Anhang A führt zur uneingeschränkten Anwendbarkeit der Verordnung, ohne dass die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats die Erfüllung der Anwendungsvoraussetzungen der Verordnung nachprüfen dürften.
Da die Regelung des Art. 1 Abs. 1 a.E. EuInsVO konstitutiven Charakter hat, werden selbst Verfahren vom Anwendungsbereich der EuInsVO erfasst, die nicht dem Anforderungsprofil der Bestimmung entsprechen (vgl. EuGH ZIP 2012, 2403).
III. Gerichtliche Zuständigkeit für Hauptinsolvenzverfahren
Die Eröffnung eines universell wirkenden Insolvenzverfahrens durch Gerichte von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft hängt davon ab, dass der Schuldner den "Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen" (center of main interests – COMI) im Staat der Verfahrenseröffnung hat (Art. 3 Abs. 1 S. 1 EuInsVO). Die bis zum 26.6.2017 geltende Fassung der EuInsVO enthält keine Definition des COMI. Eine gesetzliche Hilfestellung bietet allein Art. 3 Abs. 1 S. 2 EuInsVO a.F., in dem eine Vermutung in Bezug auf juristische Personen niedergelegt ist (Verhoeven, Die Konzerninsolvenz, 2011, S. 73). In ihrem Bericht vom 12.12.2012 war die Kommission insoweit zu der Feststellung gelangt, dass sich die Anwendung des Kriteriums "Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen" in der Praxis als schwierig erwiesen habe. An den Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung wurde kritisiert, dass sie es Unternehmen und natürlichen Personen nicht verwehren, den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen missbräuchlich zu verlegen und damit das für sie günstigere Recht zur Anwendung zu bringen. Diese Kritik greift die Neufassung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO auf, indem sie in Satz 2 eine knappe Definition des center of main interests ("der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist") enthält.
Hinweis:
Damit hat der Gesetzgeber die vom EuGH in seiner grundlegenden Eurofood-Entscheidung (ZIP 2006, 907) herangezogenen Kernmerkmale zur Grundlage seiner Gesetzesänderung gemacht (Kindler KTS 2014, 25, 30). Ob damit die Gefahr der manipulativen Verlagerung oder gar Simulation des COMI geringer geworden ist, bleibt abzuwarten (skeptisch Kindler KTS 2014, 25, 39).
1. Vermeidung von betrügerischem oder unerwünschtem forum shopping
Nach wie vor widerlegbar ist die Annahme, dass der Sitz, die Hauptniederlassung und bei natürlichen Personen der gewöhnliche Aufenthalt jeweils der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist (Art. 3 Abs. 1 S. 3 EuInsVO). Die Vermutung muss jedoch durch hinreichende Anhaltspunkte en...