Im Gegensatz zur Unmöglichkeit gibt das Institut der Störung der Geschäftsgrundlage dem Vertragspartner einen Anspruch auf Vertragsanpassung (§ 313 Abs. 1 BGB) und – wenn dies nicht möglich oder zumutbar ist – die Möglichkeit zum Rücktritt vom Vertrag (§ 313 Abs. 3 BGB). Für das Verhältnis von § 275 BGB und § 313 BGB gilt: Einigkeit besteht insoweit, als die Regelungen zur Störung der Geschäftsgrundlage gegenüber § 275 Abs. 1 BGB subsidiär sind, während die Abgrenzung von § 275 Abs. 2 BGB insb. zu Fällen der sog. wirtschaftlichen Unmöglichkeit umstritten ist.
Anwendungsvoraussetzung für § 313 BGB ist bekanntermaßen, dass sich Umstände, die von den Parteien bei Abschluss des Vertrags diesem zugrunde gelegt wurden, im Nachhinein als unzutreffend herausgestellt haben bzw. sich schwerwiegend verändert haben. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn sich durch die aufgetretene "Störung" ein Risiko verwirklicht hat, welches wegen der vertraglichen Vereinbarung von einer Partei zu tragen ist (statt vieler Palandt/Grüneberg, 77. Aufl. 2018, § 313 Rn 17 ff.).
Ob COVID-19 zur Anwendung der Grundsätze über die Störung der Geschäftsgrundlage führt, hängt damit im Wesentlichen von den Vorstellungen ab, die von den Parteien dem Vertrag zugrunde gelegt wurden. In diesem Zusammenhang spricht jedoch einiges dafür, dass der Ausbruch von COVID-19 durchaus einen Fall der sog. großen Geschäftsgrundlage darstellen kann (in diesem Sinne Weller/Lieberknecht/Habrich, NJW 2020, 1017, 1021). Hierunter versteht man die Erwartung der Vertragsparteien, dass es während der Vertragsdurchführung zu keinen grundlegenden Veränderungen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse kommt (Palandt/Grüneberg, 77. Aufl. 2018, § 313 Rn 5).
Hinweis:
Als Anwendungsfälle der "großen Geschäftsgrundlage" wurden von der Rechtsprechung in der Vergangenheit u.a. anerkannt der Zusammenbruch der DDR (BGH NJW 1993, 259 ff. = BGHZ 120, 10 ff.), die November-Revolution im Jahre 1918 (RGZ 98, 18 ff.) sowie der Ausbruch der beiden Weltkriege (RGZ 94, 68 ff.).
Dies wird man – wie im Zweifel so oft – differenziert betrachten müssen: Zutreffend wird nämlich auf der einen Seite darauf hingewiesen, dass sich die Corona-Pandemie nicht auf sämtliche Wirtschaftszweige gleichermaßen auswirkt. So sind beispielsweise Handwerker weitestgehend "mit einem blauen Auge davongekommen", sodass es schon an einer existenziellen Bedrohung fehlt. Auf der anderen Seite ist es naheliegend und überzeugend, den Ausbruch von COVID-19 und die damit verbundenen Folgen als Form von "höherer Gewalt" einzustufen (s. hierzu im Nachfolgenden unter II 2). Mangels einer vorrangigen vertraglichen Regelung kann dies nur zu dem Ergebnis führen, dass dieses Risiko nicht einseitig von einer, sondern von beiden Vertragsparteien gleichermaßen zu tragen ist (Weller/Lieberknecht/Habrich, NJW 2020, 1017, 1021; Pfeiffer in jurisPK-BGB, 9. Aufl. [Stand: 3.4.2020], § 313 Rn 13.5).
Hinweis:
Ähnliche Fragen stellen sich für internationale (grenzüberschreitende) Verträge. Im Falle von Vertragsverletzungen (z.B. Lieferverzug) sieht das UN-Kaufrecht in den Art. 45 Abs. 1 lit. b), 74 ff. CISG einen verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruch (inkl. Ersatz des entgangenen Gewinns) des Käufers gegen den Lieferanten vor. Eingeschränkt wird dies jedoch in den Fällen, in denen ein Hinderungsgrund außerhalb des Einflussbereichs des Schuldners vorliegt (Art. 79 CISG). Danach muss eine Vertragspartei für die Nichterfüllung einer ihrer Pflichten nicht einstehen, wenn sie beweist, dass die Nichterfüllung auf einem außerhalb ihres Einflussbereichs liegenden Hinderungsgrund beruht und dass von ihr vernünftigerweise nicht erwartet werden konnte, den Hinderungsgrund bei Vertragsabschluss in Betracht zu ziehen oder den Hinderungsgrund oder seine Folgen zu vermeiden oder zu überwinden. Unter diesen Voraussetzungen wird eine Vertragspartei von der Schadenersatzpflicht befreit, während jedoch der Vertrag als solcher bestehen bleibt. Der Erfüllungsanspruch des Gläubigers bleibt – sofern kein Fall objektiver Unmöglichkeit vorliegt – unberührt (Schwenzer in Schlechtriem/Schwenzer/Schroeter, CISG, 7. Aufl. 2019, Art. 79 Rn 52.).