In einer ganzen Serie von Verfahren, die seit 2017 anhält, hat das BVerfG diese Praxis auf den Prüfstand gestellt und entscheidend verändert. Das unter III. geschilderte Verfahren alten Zuschnitts ist zwar heute noch anzutreffen, stellt aber ein Auslaufmodell dar.
1. Dogmatische Grundlage: Waffengleichheit und rechtliches Gehör
Das Verfassungsgericht hat seine Rechtsprechung nicht auf das rechtliche Gehör, sondern auf den Grundsatz der Waffengleichheit gestützt. Die Gewährung von Waffengleichheit im Zivilprozess verwirklicht das Rechtsstaatsprinzip und den allgemeinen Gleichheitssatz (BVerfG, Beschl. v. 11.1.2022 – 1 BvR 123/21, Rn 35). Sie bezweckt die Gleichbehandlung der Parteien vor dem Richter, also in ihrer prozessualen Stellung im Zivilprozess (BVerfG, Beschl. v. 25.7.1979 – 2 BvR 878/74, BVerfGE 52, 131, 156) und beinhaltet die Pflicht, es den Prozessparteien i.R.d. Verfahrensordnung gleichgewichtig zu ermöglichen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und sämtliche, zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen, prozessualen Verteidigungsmittel zu ergreifen (BVerfG, Beschl. v. 11.1.2022 – 1 BvR 123/21, Rn 35). Die Waffengleichheit schließt die Gewährung rechtlichen Gehörs ein und geht über diese hinaus. Da die Gewährung rechtlichen Gehörs darauf zielt, der Partei Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung zu geben (vgl. § 282 Abs. 1 ZPO), stellt der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) eine spezielle Ausprägung der Waffengleichheit dar (BVerfG, Beschl. v. 11.1.2022 – 1 BvR 123/21, Rn 35).
Der in Art. 103 Abs. 1 GG und in Art. 6 EMRK ausdrücklich normierte Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 EMRK) gilt auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (Greger, a.a.O., S. 9); da es nur verfassungsimmanenten Schranken unterliegt, darf es nur dann beschnitten werden, wenn mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte dies verlangen (Greger, a.a.O.). Die alleinige Berufung auf den Eilcharakter des Verfahrens reicht nicht aus, um eine Versagung rechtlichen Gehörs zu rechtfertigen (Greger, a.a.O.). Sofern also nicht ausnahmsweise der Rechtsgewährungsanspruch des Antragstellers betroffen ist, folgt schon aus dem rechtlichen Gehör, dass dem Antraggegner vor einer stattgebenden Entscheidung Gelegenheit zur Äußerung zur Sach- und Rechtslage zu geben und sein Vortrag zur Kenntnis zu nehmen ist.
2. Notwendigkeit einer Anhörung des Antragsgegners zur Antragsschrift
Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist grds. eine Anhörung zum Verfügungsantrag erforderlich. Die Anhörung muss sich aber in formeller Hinsicht nicht an den starren Anforderungen des Hauptsacheverfahrens orientieren, sondern kann – entsprechend dem Effizienzgebot – auf unkomplizierte Weise, insb. auf schnellen Kommunikationswegen erfolgen. Das BVerfG erachtet eine Anhörung per E-Mail oder Telefon ausdrücklich für zulässig und hält auch sehr kurze Antwortfristen für grds. unbedenklich (BVerfG, Beschl. v. 11.1.2022 – 1 BvR 123/21, Rn 35).
Praxistipp:
Gerade bei Auslandssachverhalten ist es dem Antragsteller zu empfehlen, das Gericht ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Anhörung per E-Mail hinzuweisen und ihm – z.B. im Rubrum der Antragsschrift – zusätzliche Kommunikationsdaten der Gegenseite zur Verfügung zu stellen. Durch eine solche Anhörung per E-Mail können erhebliche Verfahrensverzögerungen vermieden werden, die sich bei einer formellen Zustellung des Verfügungsantrags ergeben würden.
Ebenso ist es dem Antragsgegner zu empfehlen, bereits in der Antwort auf die Abmahnung (die dem Gericht vom Antragsteller vorgelegt werden muss) und ggf. in der Schutzschrift eine E-Mail-Adresse zu nennen und die Bereitschaft zur Anhörung per E-Mail zu erklären.
Wo es um die zukünftige Unterlassung einer bereits vollzogenen Handlung (z.B. um eine bereits veröffentlichte Äußerung) geht oder wo die Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs bereits durch eine Abmahnung angekündigt wurde, ist eine Überraschung bzw. Überrumpelung des Antragsgegners nicht mehr denkbar. Deshalb besteht in diesen "normalen" Konstellationen regelmäßig kein Grund, von einer Anhörung und Äußerungsmöglichkeit eines Antragsgegners vor dem Erlass einer einstweiligen Verfügung abzusehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.9.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn 18).
Von einer Anhörung absehen darf das Gericht nach Rechtsprechung des BVerfG nur dann, wenn
- dem Antragsgegner mit der Abmahnung eine ausreichende Zeit zur Äußerung gewährt wird und zwischen dem Ablauf der Antwortfrist für die begehrte Unterlassungserklärung und der Einreichung des Verfügungsantrags nicht mehr als eine angemessene Frist verstrichen ist (BVerfG, Beschl. v. 30.9.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn 23);
- die Äußerungen des Antragsgegners im Abmahnverfahren dem Gericht vollständig vorgelegt werden (BVerfG, Beschl. v. 30.9.2018 – 1 BvR 1783/17, Rn 22) und
- die im Abmahnverfahren geführte Korrespondenz einschließlich der Anträge und die Antragsschrift (einschließlich der Sachanträge im Verhältnis zu den außergerichtlich formulierten Begehren bzw. Vorschlägen für die Unterwerfungserklärung) deckungsgleich sind, was nach der Präzisierung d...