I. Einleitung
Wer anderen Gehör "schenken" möchte, braucht ein Mindestmaß an Zeit und Ruhe; im zwischenmenschlichen Umgang ebenso wie im Zivilprozess. In der Kurzatmigkeit (§§ 916 ff. ZPO) des vorläufigen Rechtsschutzes ist Zeit aber ein besonders kostbares Gut: Das Eilverfahren ist von der Notwendigkeit bestimmt, effizient geführt zu werden und dem Verletzten ohne unnötige Verzögerungen und Umwege, wie sie ein Hauptsacheverfahren gestattet oder sogar gebietet, zu einem Titel zu verhelfen. Von dem rechtlichen Gehör einerseits und der Effizienz als Leitgedanken des einstweiligen Verfügungsverfahrens (nachfolgend: EV-Verfahren) andererseits gehen gegenläufige Druckkräfte aus, die die gerichtliche Praxis bis zuletzt mit spürbarem Vorrang für die Verfahrenseffizienz aufgelöst hat. Häufig wurde auf rechtliches Gehör weitgehend verzichtet, um eine rasche vorläufige Entscheidung zu gewährleisten. Dieser Vorrang der Rechtsschutzgewährung gegenüber dem rechtlichen Gehör ist mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überholt. Beginnend mit dem Beschl. v. 6.6.2017 (1 BvQ 16/17) hat das BVerfG der gerichtlichen Praxis klare und verbindliche Vorgaben gemacht, die in ihrer Umsetzung sogar eher auf eine Überbetonung des Gehörs zulasten der Verfahrenseffizienz hinauslaufen könnten.
Dieser Beitrag soll die durch die Rechtsprechung geschaffene Rechtslage erörtern und konkrete praktische Hinweise für den Umgang hiermit geben.
II. Bedeutung der gerichtlichen Praxis im EV-Verfahren
Während einstweilige Verfügungen sonst ein Schattendasein fristen (2020 entfielen nur 2,3 % bzw. 3,8 % der von den Amts- bzw. Landgerichten erledigten Verfahren auf Eilsachen; vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.1: Rechtspflege Zivilgerichte, 2020), kommt ihnen in Wettbewerbs-, Marken-, Design-, Urheber- und Pressesachen eine überragende Bedeutung zu. Mutmaßlich mehr als 50 % aller im gewerblichen Rechtsschutz, Urheberrecht und Medienrecht angestrengten Prozesse sind einstweilige Verfügungsverfahren. Dank der hohen Fallzahl ist es den auf diesen Gebieten tätigen Spezialkammern möglich, die Verfahrensnormen in einem System von Einzelfallentscheidungen zu konkretisieren, die für spätere Fälle den Charakter eines case law angenommen haben. Die Praxis des einstweiligen Verfügungsverfahrens ist ganz besonders vom Richterrecht geprägt.
Praxistipp:
Mangels Möglichkeit einer Revision im einstweiligen Verfügungsverfahren ("über den Oberlandesgerichten ist nur der blaue Himmel") gelten je nach OLG eigene "Regeln", z.B. für die Dringlichkeitsfristen (vgl. Köhler/Bornkamm/Feddersen/Köhler/Feddersen, § 12, Rn 2.15b), für die Berechnung des Fristbeginns (Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/Retzer, § 12, Rn 72 ff.), für die Widerlegung der einmal angenommenen Dringlichkeit durch Verzögerungen des laufenden Verfahrens (Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/Retzer, § 12, Rn 84 ff.) und für die Notwendigkeit der Zustellung einer Urteilsverfügung (vgl. OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 28.3.2019 – 6 U 196/18; Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/Retzer, § 12, Rn 299 ff.). Vor Beantragung einer einstweiligen Verfügung sollte die Rechtsprechung des zuständigen OLG sorgfältig geprüft werden; außerhalb des Zuständigkeitsbereichs gesammelten "Erfahrungswerten" kommt hingegen nur eine sehr begrenzte Aussagekraft zu.
III. Problem der mangelnden Einbeziehung des Antragsgegners
In der gerichtlichen Praxis war die Einbeziehung des Antragsgegners, z.B. durch Zustellung des Verfügungsantrags, Aufforderung zur Erwiderung oder Anberaumung einer mündlichen Verhandlung lange Zeit die ultima ratio. Entgegen der gesetzlichen Regel des § 937 Abs. 2 ZPO wurde die weitaus größere Zahl der Verfügungsanträge ohne mündliche Verhandlung erledigt. Auch kam es nur selten vor, dass dem Antragsgegner auf einen Verfügungsantrag hin eine Möglichkeit der Stellungnahme gewährt wurde. Stattdessen richteten sich Blick und Gehör des Gerichts häufig auf den Antragsteller: Legte er einen per se überzeugenden Verfügungsantrag vor, so wurde er regelmäßig mit einem postwendend überstellten Beschluss belohnt. Wies sein Antrag aus Sicht des Gerichts Lücken oder Widersprüche auf, so konnte er mit einem Hinweis rechnen. Ließen sich die vom Gericht erkannten Mängel nicht beheben, so wurde eine Rücknahme oder Zurückweisung (§ 922 Abs. 3 ZPO) dem Antragsgegner nicht mitgeteilt. Selbst wenn der Antragsgegner später (z.B. durch Mitteilung des Schutzschriftenregisters) Kenntnis von dem Verfahren erlangte, war es ihm nicht immer möglich, das Geschehen zu rekonstruieren, da Hinweise i.d.R. mündlich erteilt und nur unzureichend dokumentiert wurden.
Dogmatisch begründet wurde diese für Gerichte und Antragsteller bequeme Praxis mit § 922 Abs. 3 ZPO, in dem die Verwirklichung eines allgemeinen Rechtsgedanken gesehen wurde, nach dem die Gerichte zur Wahrung eines Überraschungseffekts verpflichtet seien. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass dieser z.B. im Arrestverfahren oder bei der Sicherungsverfügung schlüssige Gedanke bei der Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs nach einer Abmahnung jeder Grundlage entbehrt. In den typischen Fallk...