1. § 420 StPO – Beweisaufnahme
Zentrales Problem aus Verteidiger- bzw. Angeklagtensicht ist der im beschleunigten Verfahren direkt und im Strafbefehlsverfahren über § 412 Abs. 2 S. 2 StPO anwendbare § 420 StPO, der eine deutlich vereinfachte Beweisaufnahme ermöglicht.
Gegen diese Vorschrift werden regelmäßige rechtsstaatliche Bedenken vorgebracht, da sie eine erhebliche Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte darstelle (so MAH Strafverteidigung/Nobis, § 10 Rn 125 f.; krit. auch KK-StPO/Graf, § 420 Rn 1). Der Gesetzgeber zeigt sich hiervon indes bislang unbeeindruckt.
Hinweis:
Ein wenig entschärft wird die Problematik dadurch, dass § 420 StPO nach richtiger Auffassung in der Berufungshauptverhandlung nicht (mehr) gilt, denn mit der Einlegung des Rechtsmittels geht der Prozess in das Normalverfahren über (KK-StPO/Graf, § 420 Rn 2 m.w.N.).
a) Erweiterte Verlesungsmöglichkeiten
aa) Vernehmungsprotokolle
§ 420 Abs. 1 StPO erlaubt wie § 77a Abs. 1 OWiG im Bußgeldverfahren eine Abweichung vom Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO dahingehend, dass die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten durch die Verlesung von Protokollen über eine frühere Vernehmung oder von Urkunden, die eine von ihnen erstellte Äußerung enthalten, ersetzt werden darf. Dies wird durch richterlichen Beschluss angeordnet.
Hinweis:
Die erweiterte Verlesungsmöglichkeit entbindet das Gericht jedoch nicht von seiner Pflicht, Zeugnisverweigerungsrechte zu beachten. Es muss daher vor der Verlesung der Niederschrift über die Vernehmung eines zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen grds. klären, ob dieser mit der Verwertung einverstanden ist, es sei denn, es handelt sich um eine richterliche Vernehmung (KK-StPO/Graf, § 420 Rn 4 m.w.N.).
bb) Behördliche Erklärungen
Darüber hinaus befreit § 420 Abs. 2 StPO das Gericht von den Beschränkungen des § 256 StPO. Hiernach dürfen Erklärungen von Behörden und sonstigen Stellen über ihre dienstlichen Wahrnehmungen, Untersuchungen und Erkenntnisse sowie über diejenigen ihrer Angehörigen auch dann verlesen werden, wenn die Voraussetzungen des § 256 StPO nicht vorliegen.
Hinweis:
Nach § 420 Abs. 1 u. 2 StPO kann jedoch nur dann verfahren werden, wenn der Angeklagte, der Verteidiger und die Staatsanwaltschaft zustimmen (§ 420 Abs. 3 StPO; zu diesbezüglichen taktischen Erwägungen s.u. V.).
b) Eingeschränktes Beweisantragsrecht
aa) Keine Bindung an § 244 Abs. 3–5 StPO
Eine erhebliche Einschränkung der Beweisaufnahme beinhaltet § 420 Abs. 3 StPO. Hiernach bestimmt der Strafrichter den Umfang der Beweisaufnahme, was zur Folge hat, dass die Verteidigung zwar wie im Normalverfahren Beweisanträge stellen kann; diese stellen jedoch lediglich Anregungen an den Strafrichter dar, denen er nur entsprechen muss, wenn dies zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts nach § 244 Abs. 2 StPO erforderlich erscheint.
Ist das Gericht dagegen der Auffassung, dass der Sachverhalt bereits erwiesen oder genügend aufgeklärt ist, kann es die Anträge ablehnen, ohne an § 244 Abs. 3–5 StPO gebunden zu sein. Aus diesem Grund kann der Angeklagte eine Sprungrevision gegen das Urteil des Amtsgerichts nicht auf eine Verletzung des § 244 Abs. 3 stützen, eine entsprechende Rüge hat von vornherein keinen Erfolg (KG Berlin, Urt. v. 19.2.2015 – 161 Ss 174/14, NJOZ 2015, 1968). Auch besteht keine Bindung des Gerichts an § 245 Abs. 2 StPO, der Strafrichter darf daher Anträge auf die Erhebung präsenter Beweise zurückweisen (KK-StPO/Graf, a.a.O., § 420 Rn 7).
Hinweis:
Die im Normalverfahren mitunter zu beobachtenden Versuche der Verteidigung, durch die Stellung von Beweisanträgen und die Auswertung etwaiger Ablehnungsbeschlüsse in Erfahrung zu bringen, wie das Gericht aktuell den Verfahrensstand beurteilt, versprechen im beschleunigten bzw. im Strafbefehlsverfahren keinen Erfolg. Zwar bedarf die Ablehnung eines Antrags auch hier der Begründung; in der Praxis zahlreicher Amtsgerichte beschränkt sich diese jedoch auf die floskelhafte Wendung, die beantragte Beweiserhebung sei zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 420 Rn 11; krit. MüKoStPO/Putzke/Scheinfeld, a.a.O., § 420 Rn 24, da dies die Strafrichter zu Missbrauch des Abs. 4 einlade).
bb) Kein Verbot der Vorwegnahme der Beweiswürdigung
Darüber hinaus findet das Verbot der Beweisantizipation im Anwendungsbereich des § 420 Abs. 3 StPO keine Anwendung (KK-StPO/Graf, a.a.O.). Das Gericht ist deshalb nicht gehindert, die Erhebung eines Beweises mit der Begründung abzulehnen, dass diese an seiner bereits vorliegenden Überzeugung nichts ändern würde, vgl. KG Berlin, Beschl. v. 16.10.2017 – (5) 121 Ss 143/17 (65/17). Auch dies zeigt, wie schwierig es für die Verteidigung sein kann, entlastende Beweiserhebungen durchzusetzen.
2. Aufklärungspflicht
Allerdings ist das Gericht auch im Rahmen einer vereinfachten Beweisaufnahme umfassend an seine Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) gebunden. Drängt sich also bei objektiver Betrachtung die Erhebung des angebotenen Beweises zur Erforschung der Wahrheit auf oder liegt sie jedenfalls nahe – wie etwa dann, wenn ein Entlastungszeuge oder ein Sachverständiger die Aussage des einzigen Belastungszeugen widerlegen soll – so muss dem Beweisantrag stattgegeben und der Beweis erhoben werden (KK-StP...