a) Umfang und Schwierigkeit der Beweisaufnahme
Ob die Sachlage schwierig ist, ist im Wege einer aus der Perspektive des Angeklagten vorzunehmenden Gesamtbetrachtung aller Einzelfallumstände festzustellen, und zwar unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs (SSW-StPO/Beulke, § 140 Rn. 39).
Eine schwierige Sachlage kommt u.a. in Betracht, wenn die Feststellung der Täterschaft oder der Schuld eine umfangreiche Beweisaufnahme erfordert. Allerdings ist zu beachten, dass alleine auf die Dauer der Hauptverhandlung die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigerbestellung nicht gestützt werden kann (OLG Hamm StV 2012, 330). Voraussetzung für eine Beiordnung wegen der Komplexität der Sache ist vielmehr, dass der Fall so umfangreich ist, dass es naheliegt, der Angeklagte werde angesichts der Dauer des Verfahrens und der Zahl der zu vernehmenden Zeugen den Überblick über die Beweisaufnahme verlieren (OLG Stuttgart StV 1987, 8 [168 Zeugen an neun Verhandlungstagen]; OLG Hamm a.a.O.).
Hinweis:
Anders liegt der Fall jedoch, wenn im Rahmen der Beweisführung besondere Probleme auftreten können, etwa wenn die Auseinandersetzung mit einem Sachverständigengutachten erforderlich ist, oder eine "Aussage gegen Aussage"-Konstellation vorliegt, bei der die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen nicht anhand weiterer Beweismittel überprüft werden kann (s. hierzu die Nachweise bei Burhoff, Handbuch EV, Rn. 2203). In derartigen Konstellationen ist auch bei nur kurzer Beweisaufnahme ein Pflichtverteidiger zu bestellen, der Verfahrensumfang spielt dann keine Rolle.
Ferner kann es eine Verteidigerbestellung gebieten, wenn
- die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung einlegt und dabei die erstinstanzliche Beweiswürdigung angreift (OLG Düsseldorf StV 2000, 409; OLG Karlsruhe DAR 2005, 573),
- die Schuldfähigkeit des Angeklagten fraglich ist (KG Berlin StV 1990, 298; AG Backnang ZAP EN-Nr. 101/2014),
- Vorhalte gemacht werden müssen, insbesondere bei wechselndem Aussageverhalten von Zeugen (OLG Zweibrücken StV 1986, 240; LG Essen StV 2011, 663),
- dem Angeklagten eine Wirtschaftsstraftat i.S.d. § 74c Abs. 1 Nr. 3 GVG zur Last gelegt wird (LG Cottbus StV 2012, 525) oder
- schwierige wirtschaftliche Vorgänge zu prüfen sind, etwa im Bereich der Betriebsführung, Buchhaltung und Bilanzierung (LG Hildesheim wistra 1989, 320).
Eine Verteidigerbeiordnung kann auch dann notwendig sein, wenn sich aus den Umständen des Einzelfalls selbst ergibt, dass im Verfahren seitens der Verteidigung Anträge zu stellen sind (LG Bremen StV 2005, 81 für ein möglicherweise erforderliches Ablehnungsgesuch).
Hinweis:
Bei der Antragsbegründung ist jedoch zu beachten, dass es grundsätzlich nicht in der Hand des Angeklagten liegt, durch die Stellung bzw. die Ankündigung von Anträgen die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung selbst zu bewirken (OLG Stuttgart StRR 2013, 105). In solchen Fällen muss daher im Beiordnungsantrag zu den Umständen, die die Stellung bestimmter Anträge erforderlich machen, sorgfältig vorgetragen werden.
b) Erforderliche Akteneinsicht
Die Notwendigkeit der Verteidigung als Folge einer schwierigen Sachlage kann sich auch daraus ergeben, dass der Angeklagte die Hauptverhandlung ohne Akteneinsicht, wie sie gem. § 147 StPO nur dem Verteidiger zusteht, nicht umfassend vorbereiten kann. Ist dies der Fall, etwa weil das Tatgeschehen eines früheren Verfahrens inzident geprüft werden muss (LG Essen StV 2011, 663), Akten anderer Verfahren eingesehen werden müssen (LG Cottbus StV 1999, 642; LG Tübingen StV 1999, 642), ein in der Akte befindliches Sachverständigengutachten zu prüfen ist (vgl. hierzu die zahlreichen Nachweise bei Burhoff, Handbuch EV, Rn. 2202) oder weil im Rahmen der Zeugenbefragung Vorhalte erforderlich sind (OLG Koblenz NStZ-RR 2000, 176), hat eine Beiordnung zu erfolgen, eines besonderen Verfahrensumfangs bedarf es dann nicht.
Beiordnungsanträgen, die auf das Erfordernis umfassender Akteneinsicht gestützt werden, wird allerdings hin und wieder § 147 Abs. 7 StPO entgegen gehalten, wonach der unverteidigte Angeklagte auf seinen Antrag hin Auskünfte und Abschriften aus den Akten erhält, wenn er sich sonst nicht angemessen verteidigen könnte.
Bevor der Angeklagte hierauf verwiesen wird, bedarf es jedoch der Prüfung, ob es nicht der dem Verteidiger vorbehaltenen vollständigen Akteneinsicht bedarf; in diesem Fall ist dem Angeklagten mit Auskünften nicht geholfen (vgl. LG Köln StV 2015, 20). Außerdem darf aus der bloßen Kenntnisnahmemöglichkeit des Angeklagten vom Akteninhalt nicht auf seine umfassende Verteidigungsfähigkeit geschlossen werden, aus der Verfügbarkeit der Akten folgt nicht automatisch deren Verwertbarkeit. Vielmehr kommt es darauf an, ob bereits die Erteilung von Auskünften oder Abschriften den Angeklagten in die Lage versetzt, sich gegen den an ihn gerichteten Vorwurf auch ohne den Beistand eines Verteidigers sachgerecht und umfassend wehren zu können. Dies kann insbesondere bei einfach gelagerten Sachverhalten der Fall sein (KG Berlin NStZ-RR 2013, 116 für ein Körperverletzungsverfahren, in ...