Der Angeklagte ist zur Selbstverteidigung unfähig, wenn aus Gründen, die in seiner Person liegen oder die sich aus den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ergeben, nicht sicher gewährleistet ist, dass er in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen, seine Interessen zu wahren und alle seiner Verteidigung dienenden Handlungen vorzunehmen.
Hinweis:
Die Unfähigkeit des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen, muss dabei nicht zweifelsfrei zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Es genügt, dass erhebliche Zweifel an der Selbstverteidigungsfähigkeit vorhanden sind (Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn. 30).
Allgemeine Grundsätze, unter welchen Voraussetzungen von einer Unfähigkeit zur Selbstverteidigung auszugehen ist, lassen sich nicht aufstellen, es kommt stets auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalls an.
In der Praxis häufig sind die folgenden Konstellationen:
a) Suchtmittelabhängigkeit
Eine Suchtmittelabhängigkeit alleine macht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Selbstverteidigungsunfähigkeit noch nicht erforderlich. Führt aber langjähriger Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch zu einer negativen Veränderung der Persönlichkeit oder gar zu einer Persönlichkeitsstörung, beeinträchtigt dies die Fähigkeit zur Selbstverteidigung so weitreichend, dass der Angeklagte den Beistand eines Pflichtverteidigers benötigt. Auch Folgeschäden wie Gedächtnisstörungen oder eine allgemein verminderte intellektuelle Leistungsfähigkeit können es gebieten, einem suchtkranken Angeklagten einen Verteidiger zu bestellen.
b) Eingeschränkte Geschäftsfähigkeit/Betreuung
Ein Angeklagter, der in seiner Geschäftsfähigkeit eingeschränkt ist oder unter Betreuung steht, wird in aller Regel des Beistands eines Verteidigers bedürfen. Wer selbst bei der Regelung alltäglicher Dinge die Hilfe eines Betreuers benötigt, ist zur Selbstverteidigung in einem Strafverfahren kaum in der Lage.
Hinweis:
Ist ein Rechtsanwalt zum Betreuer des Angeklagten bestellt, steht dies der Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht entgegen (OLG Nürnberg NStZ-RR 2008, 253; LG Braunschweig StRR 2012, 42). Die Aufgaben des Betreuers und des Strafverteidigers sind unterschiedlich, darüber hinaus hat aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten auch der unter Betreuung stehende Angeklagte Anspruch auf den Beistand des Strafverteidigers seines Vertrauens.
c) Ausländer/Verständigungsschwierigkeiten
Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers kommt ferner auch dann in Betracht, wenn der Angeklagte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist.
Es darf aber nicht übersehen werden, dass mangelnde Sprachkenntnisse alleine noch nicht für eine Beiordnung genügen (Burhoff, Handbuch EV, Rn. 2117 m.w.N.).
Dementsprechend wird Beiordnungsanträgen, die auf mangelnde Deutschkenntnisse gestützt werden, in der Praxis häufig mit der Begründung entgegen getreten, es sei zur Behebung der Sprachschwierigkeiten ausreichend, einen Dolmetscher hinzuziehen. Stichhaltig ist dieser Einwand jedoch nur in sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht einfach gelagerten Fällen, da Sprachprobleme die Verteidigungsmöglichkeiten oftmals so weitreichend einschränken, dass die bloße Übersetzung der Verfahrensvorgänge nicht genügt, um eine ausreichende Verteidigungsfähigkeit sicherzustellen.
Mangelnde Sprachkenntnisse des Angeklagten begründen die Notwendigkeit der Verteidigung daher bereits dann, wenn die auf den sprachlichen Defiziten beruhende Behinderung der Verteidigungsmöglichkeit durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht völlig ausgeglichen wird. Einen solchen völligen Ausgleich gewährleistet die Hinzuziehung eines Dolmetschers bei Tathergängen, die nur durch Zeugenvernehmungen aufgeklärt werden können und bei denen es wesentlich auch auf die Glaubhaftigkeit der Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen ankommt, nicht. In solchen Fällen kann der Angeklagte mit Hilfe des Dolmetschers nämlich im Wesentlichen nur seine Verteidigungsposition verdeutlichen, nicht aber die Aussagen der Zeugen kritisch hinterfragen, etwaige Widersprüche aufzeigen oder deren Glaubwürdigkeit erschüttern (OLG Frankfurt StraFo 2008, 205). Benötigt der Angeklagte seine volle Konzentration dafür, der Übersetzung zu folgen, ist eine sachgerechte Ausübung seiner strafprozessualen Befugnisse, insbesondere seines Frage- und Erklärungsrechts, nicht möglich.
Hiervon ausgehend wird der gebotene vollständige Ausgleich der Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers eher selten erreicht werden können, so dass bei sprachunkundigen Angeklagten grundsätzlich eine großzügige Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO geboten ist (vgl. BVerfGE 64, 135). Eine solche Auslegung gebietet auch die Rechtsprechung des BVerfG, wonach sprachbedingte Verständnisschwierigkeiten dazu führen können, dass die Voraussetzungen, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers notwendig wird, eher als erfüllt angesehen werden müssen, als dies sonst der Fall wäre (BVerfGE 64, 135).
Praxishinweis:
Ist zur Durchführung der Mandantengespräche die Hinzuziehung eines Dolmetschers erforderlich, ...