Am 1.12.2016 hat der Bundestag das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23.12.2016 (BGBl I 2016, S. 3234 und BT-Drucks, S. 18/9522) verabschiedet. Die erste Stufe des Bundesteilhabegesetzes trat bereits – vorgezogen – am Tag nach der Verkündung zum 1.1.2017 in Kraft. Das Schwerbehindertenrecht des SGB IX wird – zunächst unter Beibehaltung der bekannten Paragraphenfolge (§§ 68 ff. SGB IX) bis 31.12.2017 – neu gestaltet (vgl. zu den wesentlichen Änderungen der Schwerbehindertenvertretung Gundel ZAT, 2017, 50 und 51).
1. Kündigungsschutzrechtliche Änderung
Die arbeitsrechtlich wesentlichste Änderung ist ein neuer weiterer eigenständiger Sonderkündigungsschutztatbestand, der neben dem allgemeinen Kündigungsschutz und neben die Zustimmung durch das Integrationsamt nach § 85 ff. SGB IX tritt. Gemäß § 95 Abs. 2 S. 3 SGB IX ist die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen, die der Arbeitgeber ohne die Beteiligung oder ohne die ordnungsgemäße Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ausspricht, rechtsunwirksam, wenn sich der schwerbehinderte Arbeitnehmer im Kündigungsschutzverfahren darauf beruft (vgl. zu den Einzelheiten: Bayreuther NZA 2017, 34; Gundel ZAT 2017, 50; Kleinebrink DB 2017, 126; Klein NJW 2017, 852). Die Neuregelung gilt bereits seit dem 1.1.2017 für alle Kündigungen. In einer zweiten Reformstufe wird ab dem 1.1.2018 eine völlige Neufassung des SGB IX mit neuer Paragraphenreihenfolge unter Übernahme des nun geltenden Schwerbehindertenrechts wirksam werden.
Vorsicht:
Die Vorschrift gilt, unabhängig von dem Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes, ab dem ersten Tag des Arbeitsverhältnisses auch für Kleinbetriebe, unabhängig von den §§ 85 ff. SGB IX; allein maßgeblich ist das Bestehen einer Schwerbehindertenvertretung oder die "Ersatzkompetenz" der Gesamtschwerbehindertenvertretung nach §§ 97 Abs. 6 S. 1, 96 Abs. 1 S. 2 SGB IX (vgl. zum Anwendungsbereich Gundel a.a.O.).
Völlig ungeregelt ist die Stellungnahmefrist der Schwerbehindertenvertretung. Theoretisch könnte sie deshalb durch Untätigkeit die Kündigung verhindern. Die Lösung liegt wohl in einer analogen Anwendung des § 102 Abs. 2 BetrVG.
2. Änderungen der Schwerbehindertenvertretung
Das Recht der Schwerbehindertenvertretung ist derzeit in §§ 94 ff. SGB IX geregelt und wird ab dem 1.1.2018 in den §§ 177 ff. SGB IX zu finden sein. Für die Schwerbehindertenvertretungen sind im Wesentlichen fünf Änderungen erfolgt:
- Die Schwellenwerte für die Freistellung einer Vertrauensperson wurden von 200 auf 100 schwerbehinderte Menschen herabgesetzt, § 96 Abs. 4 S. 2 SGB IX. Die Änderung erlangt besonders in Großbetrieben Bedeutung. Sie wirkt sich aber noch stärker im Bereich der Gesamt- und Konzernschwerbehindertenvertretungen aus, für welche sie nach § 97 Abs. 7 SGB IX entsprechend gilt.
- Für die Schwerbehindertenvertretung gilt künftig im Falle eines Betriebsübergangs ein Übergangsmandat, indem § 21a BetrVG entsprechend anzuwenden ist, § 94 Abs. 8 SGB IX. Nach der Gesetzesbegründung kommt durch die entsprechende Anwendung des § 21a BetrVG das Übergangsmandat außerhalb des Geltungsbereichs des BetrVG nicht zur Anwendung. Der öffentliche Dienst, der dem Personalvertretungsrecht unterliegt, und der Bereich der verfassten Kirchen, der Caritas und der Diakonie, welche Mitarbeitervertretungsrecht anwenden, sind deshalb vom Übergangsmandat ausgenommen. Für letztere fehlte dem Gesetzgeber auch die Gesetzgebungskompetenz.
- Der Arbeitgeber hat nun die Verpflichtung zur Übernahme der Kosten einer Bürokraft in erforderlichem Umfang, § 96 Abs. 8 SGB IX. Für die Auslegung wird die Rechtsprechung zu § 40 Abs. 2 BetrVG ("Büropersonal") herangezogen werden können. Im Streitfall hat die Schwerbehindertenvertretung die Tätigkeiten und deren zeitlichen Aufwand darzulegen. Der Anspruch richtet sich nicht auf eine bestimmte Person. Er besteht auch dann, wenn der Schwerbehindertenvertreter selbst Bürokraft ist. Auch ist er nach § 96 Abs. 8 SGB IX nicht auf die Freistellung anzurechnen.
- Das Gremium kann, nach Unterrichtung des Arbeitgebers, mehrere stellvertretende Mitglieder bestellen und zwar je einen Stellvertreter mehr je Überschreitung des Schwellenwertes von weiteren 100 beschäftigten schwerbehinderten Arbeitnehmern.
- Auch die stellvertretenden Mitglieder der Schwerbehindertenvertretung verfügen nun über einen Schulungsanspruch, § 96 Abs. 4 S. 3 SGB IX.
Autoren: Richter am Arbeitsgericht Wolfgang Gundel, Freiburg, und Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeits- und für Sozialrecht Dr. Ulrich Sartorius, Breisach
ZAP F. 17 R, S. 685–704