1. Sitzungshaftbefehl (§ 230 Abs. 2 StPO)
Das OLG Brandenburg hat in seinem Beschl. v. 11.3.2019 (1 Ws 35/19) zu zwei Fragen in Zusammenhang mit einem nach § 230 Abs. 2 StPO ergangenen sog. Sitzungshaftbefehl Stellung genommen. Die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten hatte am 9.1.2019 vor der großen Strafkammer des LG begonnen. Nachdem der Angeklagte einem Fortsetzungstermin am 16.1.2019 trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt ferngeblieben war, erließ das LG am 16.1.2019 außerhalb der Hauptverhandlung gegen ihn einen Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO. Der Angeklagte wurde daraufhin am 17.1.2019 festgenommen, der Haftbefehl wurde ihm am 18.1.2019 verkündet. Der Verteidiger hat am 7.2.2019 gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt, der das LG nicht abgeholfen hat. Mit Beschl. v. 22.2.2019 hat das LG den Haftbefehl aufgehoben, da es das Verfahren nach § 229 Abs. 4 StPO wegen einer Erkrankung eines Schöffen ausgesetzt hat. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl hatte beim OLG Erfolg.
Das OLG Brandenburg (a.a.O.) hat zunächst zur Frage der Zulässigkeit des Rechtsmittels des Angeklagten Stellung genommen. Nach Auffassung des OLG (a.a.O.) ist die Beschwerde des Angeklagten durch die Aufhebung des Haftbefehls und dessen Entlassung aus der Haft nicht gegenstandslos geworden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebe das Erfordernis eines effektiven Rechtschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) einem Betroffenen das Recht, die Berechtigung eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs auch dann noch gerichtlich klären zu lassen, wenn dieser tatsächlich nicht mehr fortwirkt. Während früher generell eine nachträgliche gerichtliche Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe davon abhängig gemacht worden sei, dass deren direkte Belastung sich typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann, hänge nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG die Gewährung von Rechtsschutz im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden könne. Dies gelte sowohl für den Fall der strafrechtlichen Untersuchungshaft als auch für die Konstellation eines Sitzungshaftbefehls. Die Beschwerde dürfe in solchen Fällen nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr sei die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und ggf. deren Rechtswidrigkeit festzustellen. Diese Voraussetzungen seien hier – so das OLG – erfüllt. Die Verhaftung eines nicht erschienenen Angeklagten zur Sicherstellung der Hauptverhandlung stelle einen schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 2 GG garantierte Grundrecht dar.
Zur Begründetheit des Rechtsmittels führt das OLG Brandenburg (a.a.O.) aus, dass die Haftanordnung der Strafkammer rechtswidrig gewesen sei. Der auf § 230 Abs. 2 StPO gestützte Haftbefehl sei bereits deshalb rechtswidrig, weil er nicht ordnungsgemäß erlassen worden sei. Über Zwangsmittel nach § 230 Abs. 2. StPO habe nämlich das erkennende Gericht grundsätzlich in der für die Hauptverhandlung maßgebenden Besetzung, mithin unter Mitwirkung der Schöffen, zu entscheiden. Der angefochtene Haftbefehl sei aber nicht in der Hauptverhandlung mit der hierfür maßgeblichen Besetzung erlassen worden. Zwar könne das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung einen Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO erlassen, wenn es sich diesen Erlass in der Hauptverhandlung vorbehalte; Voraussetzung eines solchen Vorbehalts sei aber, dass eine vorgebrachte Entschuldigung geprüft oder der Eingang des glaubhaft angekündigten Nachweises abgewartet werden soll. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen.
Hinweis:
Die Entscheidung entspricht der h.M. in der obergerichtlichen Rechtsprechung (zur Zulässigkeit und zur Rechtsprechung des BVerfG s. Burhoff, EV, Rn 3621 ff.; zur Zuständigkeit für den Erlass des Sitzungshaftbefehls Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl., 2019, Rn 4074 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV]). Nicht eindeutig ist allerdings, ob, wie das OLG ausführt, sich das Gericht den Erlass des Haftbefehls vorbehalten kann. Der Wortlaut des Gesetzes sieht diese Möglichkeit jedenfalls nicht vor.
2. Wiedereintritt in die Hauptverhandlung und letztes Wort des Angeklagten
Eine "Erörterung" der Sach- und Rechtslage bezieht sich im Zweifel auf Fragen, die für die Sachentscheidung bedeutsam sind. Daher ist dem Angeklagten danach ggf. erneut das letzte Wort zu gewähren. Das ist das Fazit aus dem BGH, Beschl. v. 5.2.2019 (3 StR 469/18, ZAP EN-Nr. 378/2019 = StRR 2019, Nr. 5), der eine Verfahrensrüge eines Angeklagten als begründet angesehen hatte. Nach dem Sachverhalt hatten die Angeklagten in einem gegen sie wegen des Vorwurfs des Raubes geführten Verfahrens in der Hauptverhandlung am 1.3.2018 nach dem Schluss der Beweisaufnahme und den Schlussvorträgen jeweils das letzte Wort erhalten...