Es ist Allgemeinwissen, dass wenige Bereiche der Strafverteidigung mit so großen Herausforderungen und einer so besonderen Verantwortung verbunden sein dürften wie die Verteidigung bei Sexualdelikten.
Der Fall Norbert Kuß stellt einen bekannt gewordenen "GAU" der jüngeren Strafprozessgeschichte dar. Kuß wurde wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs an seiner Pflegetochter zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Strafgericht folgte einem hierzu eingeholten aussagepsychologischen Gutachten bezüglich der Opferzeugin. Zwei Wiederaufnahmeanträge scheiterten. In der Schadensersatzklage des Opfers gelangte das Zivilgericht zu einer abweichenden Sicht und das im zivilrechtlichen Berufungsverfahren eingeholte aussagepsychologische Gutachten einesâEUR™anderen Experten meinte, dass die Opferaussagen als "nicht erlebnisorientiert" bewertet werden müssten. Erst der (daraufhin erfolgte) dritte Wiederaufnahmeantrag war nach 683 Tagen Haft erfolgreich. Nur die aussagepsychologische Sachverständige aus dem ersten Strafverfahren, die das Gutachten in der mündlichen Hauptverhandlung erstattete (§ 261 StPO), wurde auf Schadensersatz in Anspruch genommen, nicht aber die Mitverfasser des identischen schriftlichen Gutachtens, dessen Ergebnis (Opferangaben mit hoher Wahrscheinlichkeit glaubhaft) die Sachverständige dann in der Hauptverhandlung vertrat. Die im Rahmen dieses Schadensersatzprozesses eingeholten weiteren methodenkritischen, gerichtlichen und privaten Sachverständigengutachten waren im Ergebnis der Meinung, dass das erste Gutachten im Strafprozess falsch war, aber uneins, ob es sich um einen einfachen Fehler handelte oder um einen grob fahrlässigen Fehler. Das Zivilgericht ging im Ergebnis von einem grob fahrlässigen Fehler aus und bejahte die Haftung der Sachverständigen (§ 839a BGB). Ob es richtig bzw. gerecht ist, dass nur die Sachverständige in Regress genommen wurde, die das erste Gutachten in der mündlichen Hauptverhandlung erstattete (§ 261 StPO) und nicht die MitverfasserâEUR™als weitere Gesamtschuldner, soll hier nicht diskutiert werden.
Wesentlich ist, dass bei Sexualstrafverfahren oft eindeutige Beweise fehlen, sodass eine genaue Kenntnis der zulasten des Angeklagten wirkenden Mechanismen notwendig ist. Hier sind die Schlagworte der systematisch zum Nachteil des Angeklagten wirkenden Phänomene der kognitiven Dissonanz und – daraus resultierend – des Perseveranz- und Schulterschlusseffekts (des Gerichts mit der Staatsanwaltschaft), unter Verteidigern weit bekannt.
Ebenfalls bekannt ist der Versuch, ein zu Lasten des Angeklagten bestehendes aussagepsychologische Gutachten mittels eines eigenen sog. methodenkritischen Gegengutachtens zu widerlegen. Das führt aber meist nur dann zum Erfolg, wenn das Gerichtsgutachten im wahrsten Sinne des Wortes ein "Schlechtachten" ist, denn die richterliche Tendenz, um jeden Preis an dem eigenen Sachverständigen festzuhalten, ist ebenfalls bekannt.
Weniger bekannt sind die Schwächen der Aussagenanalyse insgesamt, und v.a. des tatsächlich objektiv stark begrenzten Beweiswertes der Aussageanalyse. Diese sind:
Wahrscheinlichkeitsschätzung ohne objektive Basis: Das Gutachten stellt keine Wahrheit fest, sondern nur eine Wahrscheinlichkeitsschätzung. Diese wiederum ist allerdings keine echte "Wahrscheinlichkeitsschätzung", da andernfalls mathematische Modelle und Berechnungen erfolgen müssten, sondern nur der subjektive Eindruck des konkreten Sachverständigen.
Unbekannte Inter-Rater-Reliabilität: Bereits bei dem Rohmaterial der Aussageanalyse, der sog. Realkennzeichenanalyse, offenbaren Untersuchungen zur sog. Inter-Rater-Reliabilität, d.h., ob und mit welcher Steigerungsform verschiedene Beurteiler ein Realkennzeichen identisch erkennen, diverse Diskrepanzen.
Unbekannter Wert der Konstanzanalyse: Obwohl es mittlerweile Allgemeinwissen ist, dass eine sog. differenzierte Konstanz erforderlich ist, d.h. Inkonstanz im Randbereich, nicht aber im Kernbereich, ist der Wert der Konstanz weder erforscht noch bekannt. Tatsächlich ist nicht einmal differenzierte Konstanz/Inkonstanz empirisch gesichert. Die Konstanzbejahung oder -verneinung beschränkt sich erneut auf den subjektiven Eindruck des konkreten Sachverständigen, was vergessen werden kann und was nicht.
Unbekannter Wert des Qualitäts-Kompetenzvergleichs: Die Realkennzeichen sind isoliert bedeutungslos und müssen stets zur Aussagekompetenz der Aussageperson gesetzt werden. Die Aussage muss insgesamt für diese konkrete Person in der konkreten Situation begutachtet werden. Eine objektive Basis für einen derartigen Qualitätskompetenzvergleich existiert aber nicht und ist kaum erforscht. Daraus folgt erneut: Eine Sachverständigenaussage ist nur noch eine Art subjektiver Meinung eines praktisch tätigen Experten.
Unbekannter Wert des aussagepsychologischen Ergebnisses: Um der international teils geäußerten Kritik an der Verlässlichkeit der Aussageanalyse, die nur eine Trefferquote von ca. 70 % erreicht, zu begegnen, wurde i.R.d. Verfahrens des BGH z...