Das Vorabentscheidungsersuchen des LAG Hamm betraf die Klage der Witwe eines Arbeitnehmers, der bis zu seinem Tod am 19.11.2010 bei dem beklagten Unternehmen beschäftigt war. Seit 2009 war er aufgrund einer schweren Erkrankung mit Unterbrechungen arbeitsunfähig. Bis er starb hatte er 140,5 Tage offenen Jahresurlaub angesammelt. Den Anspruch auf Abgeltung für den nicht genommenen Jahresurlaub (§ 7 Abs. 4 BUrlG, § 1922 Abs. 1 BGB) lehnte das Unternehmen unter Hinweis auf die BAG-Rechtsprechung (zuletzt: BAG, Urt. v. 20.9.2011 – 9 AZR 416/10 und Urt. v. 12.3.2013 – 9 AZR 532/11) ab.
Der EuGH (12.6.2014 – C-118/13, ZAP EN-Nr. 411/2014 = NZA 2014, 651 "Bolacke/K+K") wendet hinsichtlich des anwendbaren Europäischen Rechts den Grundsatz der praktischen Wirksamkeit ("Effet utile") an. Der Begriff des bezahlten Jahresurlaubs in der europäischen Richtlinie 2003/88 EG bedeute, dass für die Dauer des Jahresurlaubs das Entgelt des Arbeitnehmers fortzuzahlen sei. Daher erweise sich ein finanzieller Ausgleich, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers geendet hat, als unerlässlich, um die praktische Durchsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu erreichen. Das Unionsrecht stehe § 7 Abs. 4 BUrlG in der Auslegung des BAG ("einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten") entgegen, die für den Fall des Todes des Arbeitnehmers die Abgeltung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub ausschließt. Der unwägbare Eintritt des Todes des Arbeitnehmers dürfe nicht rückwirkend zum vollständigen Verlust des Anspruchs führen. Nach der Rechtsprechung des EuGH hat der Anspruch auf Urlaubsabgeltung nur zwei Tatbestandsvoraussetzungen: Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und das Bestehen von Urlaubsansprüchen. Im konkreten Fall muss das LAG Hamm nun zunächst über den geltend gemachten Abgeltungsanspruch entscheiden.
Sozialversicherungsrechtlich gilt im Hinblick auf das Beitragsrecht (s. hierzu Ricken NZA 2014, 1361): Die "normale" Urlaubsabgeltung an Arbeitnehmer zählt zum Arbeitsentgelt i.S.v. § 14 Abs. 1 S. 1 SGB IV und unterliegt der Beitragspflicht (Nachweise bei Ricken NZA 2014, 1361 in Fn. 25). Anderes gilt hinsichtlich der an Erben ausbezahlte Urlaubsabgeltung. Hier fehlt es an der für die Beitragserhebung notwendigen Beschäftigungsbezogenheit der Einnahme und ist nicht heranzuziehen, so Ricken (a.a.O., S. 1365).
Zum Anspruch auf zusätzliche Urlaubstage aufgrund des Lebensalters s. BAG, Urt. v. 21.10.2014 (9 AZR 956/12, NJW 2015, 1324 mit Anm. Hoffmann-Remy a.a.O., 1328) und u. II. 4. unter "Hinweis".
Hinweise:
- Das Urteil des EuGH betrifft allerdings nur den unionsrechtlichen Mindesturlaubsanspruch. Der darüber hinausgehende tarifliche oder vertragliche Mehrurlaubsanspruch ist unionsrechtlich nicht geschützt. Er kann daher frei nach Voraussetzungen und Grenzen – im Rahmen des AGB-Rechts und der §§ 134, 138 sowie § 242 BGB – geregelt werden. Dabei ist jede Sachgruppe des Urlaubsanspruchs, gesondert zu betrachten (Entstehung, Aufrechterhaltung, Verfall, Abgeltung). Auch die Vereinbarung der Surrogationstheorie, welche die Abgeltung des Mehrurlaubs von der Arbeitsfähigkeit abhängig macht, ist möglich (BAG, Urt. v. 13.11.2012 – 9 AZR 64/11). Ist keine Vereinbarung getroffen oder entspricht die getroffene Vereinbarung der gesetzlichen Regelung (deklaratorische Regelung), ist der Mehrurlaubsanspruch grundsätzlich wie der unionsrechtlich geschützte Urlaubsanspruch zu behandeln (vgl. zur Abgeltung: BAG, Urt. v. 13.11.2012 – 9 AZR 64/11).
- Die bisherige Rechtsprechung zum nationalen Recht – Verfall von Urlaubsansprüchen, insbesondere bei länger andauernder Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf von 15 Monaten nach Beendigung des Urlaubsjahres – war nicht Gegenstand der Entscheidung. Von deren weiterer Geltung ist auszugehen. Zum Urlaubsrecht s. auch die Sartorius/Gundel (ZAP F. 17 R, 724 ff.).
- Der Abgeltungsanspruch, der gem. § 7 Abs. 4 BUrlG mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses entsteht (vgl. BAG, Urt. v. 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, Rn. 45), kann als reiner Geldanspruch aufgrund wirksam vereinbarter Ausschlussklauseln bei nicht rechtzeitiger Geltendmachung verfallen (vgl. BAG, Urt. v. 9.8.2011 – 9 AZR 365/10 und Urt. v. 8.4.2014 – 9 AZR 550/12). Die tarifliche Ausschlussfrist kann – unionsrechtskonform – kürzer als die Dauer des Bezugszeitraums sein (vgl. BAG, Urt. v. 13.12.2011 – 9 AZR 399/10, Rn. 31; auch BAG, Urt. v. 18.9.2012 – 9 AZR 1/11, Rn. 27).