1. Pflichtverteidigungsfragen
Wegen der erheblichen praktischen Bedeutung soll hier noch einmal auf die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers (vgl. Hillenbrand ZAP F. 22, S. 851; Burhoff ZAP F. 22 R, S. 876) zurückgekommen werden. Damit hat sich vor kurzem wieder einmal das OLG Stuttgart befasst (vgl. OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.2.2015 – 1 ARs 1/15, ZAP EN-Nr. 325/2015 = StRR 2015, 182). Hier ging es nach Abschluss des Verfahrens um die Bewilligung einer Pauschgebühr nach § 51 RVG, nachdem die Strafvollstreckungskammer zuvor einen Bestellungsantrag des Rechtsanwalts übersehen hatte. Die Strafvollstreckungskammer hatte den Rechtsanwalt dann "rückwirkend" bestellt. Das OLG hat in seinem Beschluss (a.a.O.) noch einmal darauf hingewiesen, dass nach h.M., der sich das OLG angeschlossen hat, eine rückwirkende Bestellung nicht möglich sei (vgl. nur BGH StRR 2010, 29; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 141 Rn. 8 m.w.N. [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]). Der Ansatzpunkt der Gegenmeinung, dass die Umsetzung der EMRK jedenfalls in Fällen versehentlich unterbliebener Bestellung eine rückwirkende Bestellung gebiete (so etwa OLG Stuttgart StraFo 2010, 465 = StRR 2011, 64; LG Stuttgart Die Justiz 2009, 15 m.w.N.), überzeuge nicht. Das OLG sieht aber einen Ausweg. Diesen sieht es zielführender darin, in den Fällen, in denen das Gericht die Mitwirkung des Verteidigers unter Übergehung seines deutlichen und unübersehbaren und nicht etwa versteckten Beiordnungsantrags für opportun hält, entsprechend der Rechtsprechung des BGH (a.a.O.) eine schlüssige Bestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung anzunehmen, wenn die konkreten Umstände des Einzelfalls dies nahelegen. So könne dem Gedanken der unbilligen Vergütung bei vorangegangener Schaffung eines "Vertrauenstatbestands" durch den Tatrichter in angemessener Weise Rechnung getragen werden. Davon ist das OLG dann im entschiedenen Fall ausgegangen, da die Strafvollstreckungskammer den Rechtsanwalt am weiteren Verfahren beteiligt und nie zum Ausdruck gebracht hatte, dass er seine weitere Tätigkeit auf eigenes Kostenrisiko erbringe (zu allem anderen mit zahlreichen Nachweisen aus der teilweise abweichenden landgerichtlichen Rechtsprechung: Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 6. Aufl. 2013, Rn. 2326 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV], demnächst 7. Aufl., Rn. 3043; vgl. auch noch BGH NStZ 2008, 117; StraFo 2006, 456; 2015, 37).
Praxishinweis:
Unabhängig von dem (Aus-)Weg über eine konkludente Bestellung: Jeder Rechtsanwalt sollte, wenn er seine Bestellung als Pflichtverteidiger beantragt hat, darauf achten, dass über den Antrag vor Abschluss des Verfahrens – also spätestens in der Hauptverhandlung – entschieden wird. Die bis dahin erbrachten Tätigkeiten gehen nicht verloren. Da hilft § 48 Abs. 6 S. 1 RVG, und zwar ggf. auch bei der Pauschgebühr (vgl. § 51 Abs. 1 S. 4 RVG).
2. Durchsuchungsanordnung
Im Berichtszeitraum haben sich zwei Entscheidungen des BVerfG mit den Anordnungsvoraussetzungen für eine Durchsuchung befasst.
a) Anordnung der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei
Der BVerfG (Beschl. v. 29.1.2015 – 2 BvR 497/12, StRR 2015, 262) befasst sich nach längerer Zeit mal wieder mit dem sensiblen Bereich der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei (vgl. dazu die Nachw. bei Burhoff, EV, Rn. 1064; demnächst 7. Aufl., Rn. 1379). Im entschiedenen Fall war der Rechtsanwalt selbst Beschuldigter in einem Verfahren wegen der Vorwurfs der Unterhaltspflichtverletzung (§ 170 StGB). Die entsprechende Strafanzeige war von der geschiedenen Ehefrau des Rechtsanwalts erstattet worden. Durchsucht wurden dann die Kanzleiräume der Rechtsanwaltskanzlei, die der Beschuldigte zusammen mit seiner neuen Ehefrau betrieb. Beschlagnahmt worden sind Aktenordner und ein Terminkalender.
Das BVerfG äußert erhebliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit der Durchsuchungsanordnung und erinnert: Der besondere Schutz von Berufsgeheimnisträgern (§ 53 StPO) gebiete bei der Anordnung der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei die besonders sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGK 17, 550, 556 = BRAK Mitt. 2011, 79). Die Strafverfolgungsbehörden hätten dabei auch das Ausmaß der – mittelbaren – Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit der Betroffenen zu berücksichtigen. Richte sich eine strafrechtliche Ermittlungsmaßnahme gegen einen Berufsgeheimnisträger in der räumlichen Sphäre seiner Berufsausübung, so bringe dies regelmäßig die Gefahr mit sich, dass unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG stehende Daten von Nichtbeschuldigten, etwa den Mandanten eines Rechtsanwalts, zur Kenntnis der Ermittlungsbehörden gelangen, die die Betroffenen in der Sphäre des Berufsgeheimnisträgers gerade sicher wähnen durften. Dadurch würden die Grundrechte der Mandanten berührt. Der Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt und Mandant liege darüber hinaus auch im Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen und geordneten Rechtspflege. Diese Belange verlangten eine besondere Beacht...