1. Sitzungspolizeiliche Maßnahmen und Verfassungsbeschwerde
Im Jahr 2008 war beim LG Oldenburg ein Verfahren wegen eines Tötungsdelikts anhängig. In diesem wurde dem Angeklagten vorgeworfen, einen Holzklotz von einer Autobahnbrücke auf einen Pkw geworfen und dadurch die Beifahrerin getötet zu haben. Die Tat und die Strafverfolgung fanden bundesweit ein hohes mediales Interesse. Nachdem im Rahmen der Berichterstattung über den ersten Hauptverhandlungstag mindestens eine Zeitung unverpixelte Bilder des Angeklagten veröffentlicht hatte, erließ der Vorsitzende Richter des Schwurgerichts eine sitzungspolizeiliche Anordnung auf Grundlage des § 176 GVG, nach der vom Angeklagten und dem Nebenkläger nur verpixelte Bilder veröffentlicht werden dürfen. Gegen diese sitzungspolizeiliche Anordnung und mittelbar gegen die Versagung eines fachgerichtlichen Rechtsbehelfs durch den Gesetzgeber hatte der Springer-Verlag Verfassungsbeschwerde erhoben. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG, Beschl. v. 17.4.2015 – 1 BvR 3276/08, StRR 2015, 223).
Seine Nichtannahmeentscheidung hat das BVerfG (a.a.O.) damit begründet, dass der Rechtsweg gegen die angegriffene Verfügung des Vorsitzenden nicht erschöpft sei (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Das BVerfG verweist darauf, dass zwar offensichtlich unzulässige Rechtsmittel nicht zum Rechtsweg gehören, andererseits müsse der Beschwerdeführer aber vor der Erhebung der Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf § 90 Abs. 2 BVerfGG von einem Rechtsmittel grds. auch dann Gebrauch machen, wenn zweifelhaft sei, ob es statthaft sei und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden könne. In derartigen Fällen sei es grds. die Aufgabe der Fachgerichte, über streitige oder noch offene Zulässigkeitsfragen nach einfachem Recht unter Berücksichtigung der hierzu vertretenen Rechtsansichten zu entscheiden. Zum Meinungsstand hinsichtlich der Zulässigkeit der Beschwerde gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen verweist das BVerfG darauf, dass zwar insbesondere die ältere fachgerichtliche Rechtsprechung eine Beschwerde gegen Verfügungen des Vorsitzenden nach § 176 GVG ablehne (vgl. u.a. OLG Hamm NJW 1972, 1246, 1247; OLG Köln NJW 1963, 1508; OLG Nürnberg MDR 1969 600; OLG Zweibrücken NStZ 1987, 477) und ein Teil der Literatur bis heute dieser Auffassung folge (vgl. u.a. Allgayer, in: Graf, StPO, 2. Aufl. 2012, GVG § 181 Rn. 1; Lehr NStZ 2001, 63, 66). Der BGH habe die Frage einer Beschwerde gem. § 304 Abs. 1 StPO gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen bislang ausdrücklich offen gelassen (vgl. BGHSt 44, 23, 25). Doch habe sich ein nicht unerheblicher Teil der neueren fachgerichtlichen Rechtsprechung bereits im Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde für die Statthaftigkeit der Beschwerde ausgesprochen (vgl. OLG Karlsruhe NJW 1977, 309 f. OLG München NJW 2006, 3079; LG Ravensburg NStZ-RR 2007, 348 f.). Voraussetzung sei, dass der sitzungspolizeilichen Anordnung eine über die Dauer der Hauptverhandlung oder sogar über die Rechtskraft des Urteils hinausgehende Wirkung zukomme und insbesondere Grundrechte oder andere Rechtspositionen des von einer sitzungspolizeilichen Maßnahme Betroffenen dauerhaft tangiert und beeinträchtigt würden. Auch die Kommentarliteratur habe sich – bezogen auf den Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde – bereits dieser neuen obergerichtlichen Rechtsprechungslinie angeschlossen gehabt (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 176 GVG Rn. 16; Diemer, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 176 GVG Rn. 7; noch weitergehend jetzt Velten, in: Wolter, SK-StPO, 4. Aufl. 2013, Band IX, § 176 GVG Rn. 17). Dieser Ansicht folgen mittlerweile weitere Gerichte (vgl. KG NStZ 2011, 120; OLG Hamm NStZ-RR 2012, 118; OLG Stuttgart NJW 2011, 2899; LG Mannheim NJW 2009, 1094 ff.). Im Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde sei nach der weitgehenden Änderung der Auffassung in fachgerichtlicher Rechtsprechung und Literatur ein Rechtsmittel nach § 304 Abs. 1 StPO also nicht mehr offensichtlich unzulässig gewesen.
Hinweis:
War es schon bisher wohl h.M. der Fachgerichte, dass zumindest dann, wenn eine Anordnung Wirkung über die Hauptverhandlung hinaus hat, das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig ist, dürfte das nach dem Spruch aus Karlsruhe erst Recht gelten. Die angeführte ältere Rechtsprechung und Literatur ist also überholt. In vergleichbaren Fällen muss vor dem Weg nach Karlsruhe ggf. erst der fachgerichtliche Rechtsweg beschritten werden.
2. Mitteilungspflicht im Rahmen von Verständigungsgesprächen
Die Rechtsprechung zur sich nach Verständigungsgesprächen ergebenden Mitteilungspflicht des Gerichts (§ 243 Abs. 4 StPO) ist inzwischen unüberschaubar. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht auf der Homepage des BGH eine weitere/neue Entscheidung eines der Strafsenate veröffentlicht wird. Diese lassen sich aus Platzgründen nicht alle darstellen und sollen einem gesonderten Beitrag vorbehalten.
Hinweis:
Die Fragen sind vor allem deshalb von Bedeutung, weil die Strafsenate des BGH erkennbar teilweise versuchen, die Rechtsprechung des BVerfG (Urt. v. 19.3...