In dem Werk "Beweis und Beweiswürdigung" von Egon Schneider (in 5. Auflage zuletzt 1994 erschienen) heißt es: "Berufserfahrung gleicht mangelndes aussagepsychologisches Wissen nicht aus" (Rn 1145). Schneider fordert ferner dazu auf, dieses Wissensgebiet anhand der Fachliteratur zu studieren (Rn 8979).
Dabei kann die Kenntnis einer (wenig bekannten) Untersuchung zur Validität sog. Realkennzeichen, also der inhaltlichen Merkmale für den Erlebnisbezug, eine kritische Prüfung der in richterlichen Beweiswürdigungen vorkommenden Kriterien ermöglichen.
In einem Experiment von Steller, Wellershaus und Wolf aus dem Jahr 1992 sollten Grundschulkinder der 1. und 4. Klasse im Rahmen eines Erzählwettbewerbs eine wahre und eine erfundene Geschichte erzählen. Folgende Themen standen zur Auswahl: Injektion erhalten, operiert werden, Blutabnahme, Zahn bohren/ziehen, von einem Tier angefallen werden, von einem Kind verhauen werden, einen Unfall erleiden.
Eine entsprechende Auswertung, welche Schlussfolgerungen aus diesem Experiment in Bezug auf die Fehlerhaftigkeit von Zeugenaussagen und damit bei der Bewertung von Aussagen zu ziehen sind, hat Hommers bereits 1997 vorgenommen (vgl. "Die aussagepsychologische Kriteriologie unter kovarianzstatistischer und psychometrischer Perspektive", in: Greuel/Fabian/Stadler, Psychologie der Zeugenaussage, S. 87 ff.). Obwohl die Ergebnisse seit 20 Jahren existieren und immer noch gültig sind, sind sie in der juristischen Praxis weitgehend unbekannt.
Die wichtigsten Erkenntnisse zur Validität von Realkennzeichen, die eine bessere Bewertung von Aussagen ermöglichen können, in aller Kürze:
- Kriterium der logischen Konsistenz:
schulmäßige Annahme |
Ergebnis |
Die Einhaltung der logischen Konsistenz erfordert eine hohe Konzentrationsleistung für den Lügner und ist deshalb schwierig. |
Das Kriterium hatte keine Aussagekraft. Bei geübten Lügnern kam das Kriterium sogar häufiger in unwahren als bei wahren Aussagen vor. |
- Interaktionsschilderungen:
schulmäßige Annahme |
Ergebnis |
Schilderungen einer wechselseitigen Kette von Aktionen und Reaktionen sprechen für den Erlebnisbezug, denn der wahrheitsgemäß Aussagende kann den Vorfall vor seinem geistigen Auge sehen. |
Keine Aussagekraft; das Kriterium wurde von geübten Lügnern öfter in unwahren als in wahren Aussagen gezeigt. |
- Spontane Berichtigungen oder Zugeben von eigenen Lücken:
schulmäßige Annahme |
Ergebnis |
Um keinen Zweifel an seiner Aussage zu säen, wird der Lügner bemüht sein, keine nachträglichen Verbesserungen vorzubringen. |
Auch dieses Kriterium hatte keine Aussagekraft: Spontane Berichtigungen wurden von geübten Lügnern öfter in unwahren als in wahren Aussagen gezeigt, und das Zugeben von Lücken offenbarte in den verschiedenen Kontrollgruppen widersprüchliche Ergebnisse. |
schulmäßige Annahme |
Ergebnis |
Um sich selbst in ein positives Licht zu rücken, wird der Lügner keine für ihn unvorteilhaften Umstände schildern. |
Auch dieses Kriterium hatte keine Aussagekraft und kam insgesamt öfter in unwahren Aussagen vor. |
schulmäßige Annahme |
Ergebnis |
Nach der Undeutsch-Hypothese ist Detailreichtum gerade die Grundvoraussetzung einer glaubhaften Aussage. |
Auch dieses Kriterium hatte kaum Aussagekraft: Es kam in den verschiedenen Gruppen – teils der Theorie ent-, teils ihr widersprechend – vor und war insgesamt in wahren und unwahren Aussagen häufig vorhanden. |
- Eigen- und fremdpsychische Vorgänge:
schulmäßige Annahme |
Ergebnis |
Die Beschreibung von Gefühlen, mentalen oder körperlichen Veränderungen in Verbindung mit dem Kerngeschehen deutet auf den Erlebnisbezug hin. |
Gleiches uneindeutiges Ergebnis wie beim Detailkriterium; dem Merkmal kam keine Signifikanz zu. |
Die Auswertung zeigt, dass Aussagen von Zeugen in Bezug auf die Validität der oben genannten Kriterien als höchst zweifelhaft eingestuft werden müssen (vgl. Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 3. Aufl., §§ 26 ff.).
Das führt zu folgendem Fazit: Die Kriterien der Aussageanalyse sind nicht so nützlich oder eindeutig, wie es zu wünschen wäre. Meine bereits in der Kolumne "Aussageanalyse im Gerichtsverfahren" (s. ZAP 19/2017, S. 987) geäußerte Aufforderung, sich eingehender mit Lügensignalen zu beschäftigen, statt sich auf Realkennzeichen zu beschränken, wird damit zusätzlich unterstützt, auch wenn es durchaus Realkennzeichen mit hohem Indizwert gibt (z.B. das Komplikations- oder Unverständnismerkmal). Das Wissen um die Kriterien, aber auch um die Begrenztheit der Aussageanalyse an sich sollte daher zum Grundwissen aller forensisch tätigen Anwälte gehören.
Es gilt nach wie vor, was Egon Schneider, in seinem eingangs genannten Standardwerk, gesagt hat: "Man muss sich eben stets die Mühe machen, über das Ergebnis der Beweisaufnahme nachzudenken" (Beweis und Beweiswürdigung, Rn 1110).
Autor: Rechtsanwalt Dr. Andreas Geipel, München
ZAP F., S. 703–704