Seit Jahren wird im straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren um das Recht des Betroffenen auf Einsicht in die Bedienungsanleitung eines Messgeräts und/oder auf Einsicht und Herausgabe von Messdaten der Messung gestritten, die dem Verfahren gegen den Betroffenen zugrunde liegt. In diesem Streit gibt es eine strenge Rechtsprechung der wohl überwiegenden Meinung der OLG, die einen Herausgabeanspruch des Betroffenen verneinen und in der Verweigerung der Herausgabe der Messdaten auch keine Verletzung von Rechten des Betroffenen sehen (vgl. dazu eingehend mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung Burhoff, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2018, Rn 2220 ff.). Zu der Problematik liegt jetzt (endlich) eine verfassungsgerichtliche Entscheidung vor. Der VerfGH des Saarlands hat in seinem Beschluss vom 27.4.2018 (Lv 1/18, ZAP-EN-Nr. 364/2018 = VRR 6/2018, 15), die Verfahrensweise der Verwaltungsbehörde, die dem Betroffenen vorhandene Messdaten auf Antrag hin nicht in lesbarer Form herausgeben und die "Absegnung" dieser Verfahrensweise durch die OLG als Verletzung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs und eines fairen gerichtlichen Verfahrens angesehen.
Ergangen ist der Beschluss in einem Bußgeldverfahren wegen eines Rotlichtverstoßes, der mit dem Messgerät "PoliScan F1 HP" festgestellt worden war. Die Verteidigerin hatte in der Hauptverhandlung beantragt, ihr die digitalen Falldaten inklusive der unverschlüsselten Rohmessdaten der gesamtem Messserie, die Token-Datei, das zugehörige Passwort sowie die Statistikdatei zur Verfügung zu stellen, die Hauptverhandlung auszusetzen und ein Sachverständigengutachten einzuholen. Das AG hatte das abgelehnt und den Betroffenen verurteilt. Den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat das OLG Saarbrücken verworfen (vgl. u.a. zfs 2017, 172).
Der VerfGH Saarland (a.a.O.) sieht das gänzlich anders und geht von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Grundsatzes des fairen Verfahrens aus. Denn nach den Grundsätzen zum sog. standardisierten Verfahren könne der Betroffene die davon ausgehende Richtigkeitsvermutung nur angreifen, wenn er konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler im Rahmen der Messung vorträgt. Dies werde ihm jedoch unmöglich gemacht, wenn die Messdaten als die Grundlage der Messung nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden (OLG Celle StRR 8/2016, 18 = VRR 8/2016, 16 m. Anm. Burhoff; Deutscher DAR 2017, 723; Cierniak zfs 2012, 664, 669). Ebenso wie dem "Ankläger" Möglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, einen Tatvorwurf nachzuweisen, was in Fällen der hier diskutierten Art leicht möglich ist, da der vom Gerät angezeigte Wert dafür genügt, muss sich – aus dem dem Gebot eines fairen Verfahrens folgenden Gebot der Waffengleichheit ergeben, dass einem im Bußgeldverfahren Betroffenen Zugang zu den Informationen gewährt werden muss, die er benötigt, um sich gegen den Vorwurf zu verteidigen oder durch einen Verteidiger verteidigen zu lassen ("Parität des Wissens", LG Trier DAR 2017, 721, 722 m. Anm. Deutscher = NZV 2017, 589 m. Anm. Krenberger; OLG Jena NJW 2016, 1457 m. Anm. Leitmeier = StRR 4/2016, 20 = VRR 8/2016, 16 jeweils m. Anm. Burhoff; OLG Celle a.a.O.; Cierniak zfs 2012, 664 ff.; Krenberger a.a.O.; Deutscher VRR 10/2015, 16; ders. DAR 2017, 723; Burhoff VRR 2013, 78; ders. StRR 4/2016, 20). Ablehnende Stimmen überzeugten den VerfGH Saarland nicht. So sehe etwa das OLG Bamberg den Grundsatz des fairen Verfahrens durch die Nichtbeiziehung der "Lebensakte" eines Abstands- und Geschwindigkeitsmessgeräts oder von sonstigen außerhalb der Akte befindlichen Unterlagen nicht als verletzt an (NZV 2018, 80 m. Anm. Krenberger; OLG Bamberg DAR 2016, 337 = VRR 7/2016, 19 m. Anm. Deutscher).
Hinweise:
Der mehr als 28 Seiten lange Beschluss ist lesenswert und sollte für den Verteidiger in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldsachen zur Pflichtlektüre gehören. Denn er weist nicht nur auf den weiten Umfang des Einsichtsrechts des Betroffenen hin, sondern auch darauf, dass dies grundsätzlich auch noch im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht werden kann, um ein faires Verfahren und den Anspruch auf rechtliches Gehör zu gewährleisten. Nichts anderes gilt für einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, wenn die vom Einsichtsrecht umfassten Objekte nicht zuvor in vollem Umfang zur Verfügung gestellt werden.
Zu beachten sind aber die auch vom VerfGH vorgegebenen Einschränkungen. So sollte sich der Verteidiger bereits frühzeitig gegenüber der Verwaltungsbehörde um Einsicht in die relevanten Objekte bemühen. Im gerichtlichen Verfahren ist der entsprechende Antrag (frühzeitig) vor der Hauptverhandlung zu stellen. Bei dort gestelltem Antrag auf Aussetzung wegen noch nicht erfüllten Einsichtsrechts muss der Zwischenrechtsbehelf des § 238 Abs. 2 StPO auch beim Bußgeldrichter als Einzelrichter eingesetzt werden, um keinen Rügeverlust im Rechtsbeschwerdeverfahren zu riskieren (zu allem Burhof...