1. Rechtsmissbräuchliches Verhalten im Baurecht
Das BVerwG hat in seinem Beschluss vom 19.12.2018 (4 B 6.18) entschieden, dass sich ein Antragsteller treuwidrig bzw. rechtsmissbräuchlich verhalte, wenn er zunächst im Rahmen von Vergleichsverhandlungen die Bereitschaft der Gemeinde, den angegriffenen Bebauungsplan den Vorschlägen des Antragstellers entsprechend zu dessen Gunsten zu ändern, ausnutzt und nach Erhalt einer auf die Planänderung gestützten Baugenehmigung die gerichtliche Feststellung begehrt, dass der Bebauungsplan vor der in seinem Interesse erfolgten Planänderung nichtig gewesen sei. Denn die Ausübung prozessualer Rechte unterliege den Geboten von Treu und Glauben; deshalb könne die Befugnis zur Anrufung der Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen unzulässig sein.
Hinweis:
Das BVerwG hat bereits mehrfach ausgesprochen, dass in die Prüfung eines Normenkontrollantrags nicht mehr eingetreten werden könne, wenn der Antragsteller dadurch, dass er zur Durchsetzung eines geltend gemachten Rechts das Gericht anrufe, sich zu seinem eigenen früheren Verhalten in einen mit Treu und Glauben unvereinbaren Widerspruch setze (NVwZ 1990, 554; NVwZ 1992, 974 f. m.w.N.). Das könne etwa der Fall sein, wenn der Rechtsschutzsuchende zunächst die ihm günstigen Festsetzungen eines Bebauungsplans ausnütze und sich erst später gegen die für ihn ungünstigen Festsetzungen wende (BVerwG, Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 44).
2. Nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung
Wird ein Bauherr von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit, stellt sich die Frage nach den rechtlichen Auswirkungen dieser Befreiung auf den Nachbarn. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, einer der in Nr. 1 bis 3 genannten Tatbestände erfüllt ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die Grundzüge der Planung ergeben sich aus der den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrunde liegenden und in ihnen zum Ausdruck kommenden planerischen Konzeption. Ob sie berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto näher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption, die nur im Wege der (Um-)Planung möglich ist (BVerwGE 138, 166). Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben (BVerwG, Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39 S. 2).
Ist die Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans fehlerhaft erfolgt, ist ein nachbarlicher Abwehranspruch gegeben. Bei nachbarschützenden Festsetzungen muss jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung einer Baugenehmigung oder eines Bauvorbescheids führen, während eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung einen Abwehranspruch des Nachbarn nur auslöst, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf seine nachbarlichen Interessen genommen hat (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 153 S. 70 f.).
Das BVerwG weist in seinem Beschluss vom 9.8.2018 (4 C 7.17, KommJur 2018, 433 ff. = NVwZ 2018, 1808 ff. = BauR 2019, 70 ff. = ZfBR 2019, 42 ff.) darauf hin, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch dann drittschützende Wirkung entfalten können, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stamme, in der man ganz allgemein an einen nachbarlichen Drittschutz noch nicht gedacht habe. Der baurechtliche Nachbarschutz beruhe auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses, in dem der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung, der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen sei. Dieser Gedanke präge nicht nur die Anerkennung der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, sondern könne auch eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung rechtfertigen.
Hinweis:
Der Umstand, dass ein Plangeber die Rechtsfolge einer nachbarschützenden Wirkung der Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hat, verbietet es nicht, die Festsetzungen nachträglich subjektiv-rechtlich aufzuladen. Es entspricht allgemeiner Rechtsüberzeugung, dass das öffentliche Baurecht nicht in dem Sinne statisch aufzufassen ist, dass es einer drittschutzbezogenen Auslegung unzugänglich wäre. Baurechtlicher Nachbarschutz ist das Ergebnis einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung, welche hierbei von einer Auslegung der dafür offenen Vorschriften ausgeht (BVerwGE 101, 364, 376).