Bei spektakulären Verbrechen erfolgt reflexartig in der Öffentlichkeit und bei den Politikern der Ruf nach schärferen Gesetzen. Dies ist auch jetzt wieder so, nachdem eine Vielzahl von Fällen von Kindesmissbrauch bekannt geworden ist. Die vorhandenen Gesetze reichen durchaus für eine angemessene Bestrafung aus: § 176 StGB sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren vor, § 176a StGB eine Mindeststrafe von zwei Jahren. Bei mehreren Straftaten erfolgt zwar keine Addition der einzelnen Freiheitsstrafen, wie dies in den USA der Fall ist, allerdings kommt eine Gesamtstrafenbildung gem. § 53 StGB in Betracht, bei der die Strafandrohung von zehn Jahren überschritten werden kann.
Die Vorstellung, dass sich ein Straftäter vor Begehung seiner Tat durch einen Blick in das Strafgesetzbuch über die zu erwartende Strafe informiert, ist ebenso naiv wie weltfremd. Straftäter rechnen im Allgemeinen damit, dass sie nicht gefasst werden. Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung sind ein gesellschaftliches Problem, das auch nur gesellschaftlich zu lösen ist: Jugendämter, Kindergärten und Schulen müssen über psychologisch geschulte Fachkräfte verfügen, die sich um verhaltensauffällige Kinder kümmern können.
Auch bei Familiengerichten ist ein psychologisch geschulter Richter gefragt, wenn es um Betreuungssachen geht. Es ist nicht erforderlich, dass alle Familienrichter entsprechend geschult werden, es genügt, wenn bei jedem Familiengericht eine Planstelle mit Sonderzuständigkeit für Betreuungssachen eingerichtet und dann mit einem entsprechend geschulten Richter besetzt wird.
Derartige Maßnahmen sind kostspielig und wenig öffentlichkeitswirksam. Deswegen reagieren die meisten Politiker mit dem Ruf nach einer höheren Strafandrohung und einer Änderung des Grundgesetzes. Das Grundgesetz, eine der besten Verfassungen der Welt, ist in 61 Jahren seines Bestehens 58 Mal geändert worden, die Verfassung der USA von 1787 hat nur 27 Ergänzungen erfahren. Der Schutz der Kinder ist bereits in Art. 6 GG ausreichend gewährleistet, eine weitere Ergänzung zum Schutz der Kinder würde allenfalls wenig wirksamen Symbolcharakter haben. Der blinde Aktionismus mit dem Ziel von Gesetzesänderungen dient allenfalls der Papierindustrie, da Tonnen von Papier gedruckt werden müssen, die dann in Gesetzessammlungen und Archiven verschwinden.
Die wichtigste Aufgabe eines Rechtsstaats besteht darin, seine Bürger in erster Linie vor Straftaten zu schützen, und erst in zweiter Linie, begangene Straftaten zu ahnden.
Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln
ZAP F., S. 731–731