a) Geltung sozialrechtlicher Verfahrensvorschriften
Das LAG hat entschieden, der Kläger habe mit seinem telefonischen Antrag auf Gleichstellung, die als Vorfrist verstandene Frist des § 90 Abs. 2a a.F. = § 173 Abs. 3 Alt. 2 gewahrt.
Das Gericht verweist zur Begründung seiner Auffassung zurecht auf die allgemeinen sozialrechtlichen Verfahrensgrundsätze. Es erwähnt § 16 SGB I (zur Anwendbarkeit s. II. 2. c), §§ 9 und 18 SGB X.
Gemäß § 187 Abs. 1 Nr. 5 gehört die Gleichstellung, deren Widerruf und Rücknahme (hierzu unten III.) zu den Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die BA nimmt insoweit Aufgaben wahr, die sie aufgrund einer Ermächtigung im SGB vollzieht. Sie handelt also nach dem SGB, so dass das SGB X nach dessen § 1 Abs. 1 S. 1 anwendbar ist. Ferner bestimmt § 37 S. 1 SGB I u.a., dass das 1. und das 10. Buch des SGB für alle Sozialleistungsbereiche des SGB gelten, soweit sich aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes ergibt.
Im SGB X gilt nach dessen § 9 der Grundsatz der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens. Dieses ist hiernach an bestimmte Formen nicht gebunden, soweit keine besonderen Rechtsvorschriften für die Form des Verfahrens bestehen. Diese Vorschrift ist Ausdruck des gesetzgeberischen Willens, die Rechtsstellung der Bürger zu stärken, indem ihnen die Wahrnehmung ihrer Rechte erleichtert wird, (s. Fichte, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl., § 9 SGB X, Rn 10). Soweit nichts anderes gesetzlich bestimmt ist, können demnach auch Anträge formlos gestellt werden, mündlich, fernmündlich, auch mittels E-Mail (Fichte, a.a.O., Rn 1), ferner (KassKomm/Mutschler, § 18 SGB X, Rn 12 m.w.N.). Das SGB IX enthält für den Gleichstellungsantrag keine von den Vorschriften des SGB X abweichende Vorschriften hinsichtlich der Antragstellung. Formbedürftigkeit gleichwohl anzunehmen wäre unvereinbar mit dem Vorbehalt des Gesetzes, § 31 SGB I, wonach Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuches nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zulässt. Diese Bestimmung erfasst nicht nur Sozialleistungen, sondern alle in den Besonderen Teilen des SGB geregelten Bereiche (KassKomm/Spellbrink, § 31 SGB I, Rn 9; s.a. BSG, Urt. v. 30.1.2020 – B 2 U 2/18 R, hierzu Sartorius/Winkler ZAP F. 18, S. 1772 ff.).
Hinweis:
Einen Antrag auf Leistungen mittels E-Mail sieht das BSG z.B. im SGB II als möglich an (BSG, Urt. v. 11.7.2019 – B 14 AS 51/18 R, hierzu Bienert NZS 2019,956 und Sartorius/Winkler, ZAP F. 18, S. 1740 f.), jedenfalls dann, wenn das Jobcenter einen Zugang für die Kommunikation per E-Mail eröffnet hat, der Leistungsanträge nicht ausschließt. Es bestehe in diesem Fall auch keine Bindung an übliche Dienstzeiten möglich – der Antrag war hier an einem Freitag um 20 Uhr eingegangen, zur Frage des Zugangs s. ferner unten c) –, der Antrag sei demnach auch fristwahrend nach § 37 Abs. 3 SGB II.
b) Bedarf der Antrag einer Begründung/Beifügung von Nachweisen?
Das BAG hat im Urteil vom 1.3.2007 (2 AZR 217/06) unter Rn 43 entschieden, der Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft bzw. auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen müsse unter Einhaltung der Drei-Wochen-Frist (s. oben II.1.) „ordnungsgemäß mit allen erforderlichen Angaben (ohne diese zu spezifizieren) gestellt werden”. Ein Eingehen darauf, ob und mit welchem Ergebnis hierbei sozialrechtliche Verfahrensvorschriften einschlägig sein können, fehlt jedoch. Es handelt sich hier zudem um Ausführungen, die für die Entscheidung nicht tragend waren (um ein obiter dictum), weil dort die Antragstellung erst drei Tage vor Ausspruch der Kündigung und damit jedenfalls – im Hinblick auf den Kündigungsschutz nach §§ 168 ff. – zu spät erfolgte, so auch das LAG (s. Rn 44 ff.). Dieses stellt weiter darauf ab, bei der hier erfolgten telefonischen Antragstellung wäre es dem Sachbearbeiter möglich gewesen, die Angaben aus dem – später zugesandten Antragsformular, das sechs Tage nach der telefonischen Antragstellung ausgefüllt bei der BA einging – abzufragen. Wenn die BA danach erst einen Monat später über den Antrag entschieden hat, so zeige der mehr als drei Wochen dauernde Verfahrensverlauf, dass dieser in keiner Weise eine Folge einer fehlenden Mitwirkungshandlung des Klägers gewesen ist (zur rechtl. Relevanz dieses Aspekts, s.o. II. 1.). Mutschler führt aus, ein Antrag bedürfe im Hinblick auf den Amtsermittlungsgrundsatz des § 20 SGB X keiner Begründung (vgl. KassKomm § 18 SGB X, Rn 12; im Ergebnis ebenso, wenn auch ohne Begründung, Goebel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. § 151 Rn 22).
Würde man der Auffassung des BAG folgen, bedeutete das, dass mündliche Anträge – entgegen §§ 9, 18 SGB X – nicht möglich wären. Dies bedeute u.E. einen Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes, § 31 SGB I (s. hierzu bereits oben unter II. 2. a). Zustimmung finden die Ausführungen des BAG hingegen bei Linck in: Linck/Krause/Bayreuther, KSchG, 16. Aufl., § 4 Rn 121).
Koch (in: Schaub, Arbeitsrechtshandbuch 18. Aufl., § 179 Rn 9) verweist hinsichtlich des Antrags auf Gleichstellung auf ...