Der Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 8.8.2019 liegt der nachfolgende Fall zugrunde (vgl. BVerfG NJW 2019, 2995 f.).
aa) Sachverhalt der Kammerentscheidung
Das LG Neubrandenburg hat mit Beschluss vom 11.9.2018 (Az.: 2 T 122/18, BeckRS 2018, 39415) die sofortige Beschwerde des Schuldners gegen den Zuschlagsbeschluss des AG Pasewalk (Zweigstelle Anklam) vom 7.9.2017 (Az.: 513 K 125/14) zurückgewiesen. Der Vollstreckungsschuldner hat geltend gemacht, ihm sei Vollstreckungsschutz gem. § 765a ZPO zu gewähren, weil mit der Immobiliarvollstreckung sein Grundbesitz verschleudert werde und im Falle des Verlustes seines Hausgrundstücks eine ernsthafte Suizidgefahr bestehe. Das AG Pasewalk hatte der sofortigen Beschwerde unter Berufung darauf, dass der Schuldner nicht alles ihm Zumutbare unternehme, um das mit der Vollstreckung verbundene Risiko zu minimieren, nicht abgeholfen (vgl. AG Pasewalk, Beschl. v. 7.9.2017 – 513 K 125/14). Gemäß der landgerichtlichen Begründung sei bereits vom Vollstreckungsschuldner nicht ausreichend dargetan, dass Umstände vorliegen, die bei einem erneuten Versteigerungstermin mit Wahrscheinlichkeit ein wesentlich höheres Gebot erwarten lassen. Es reiche nicht aus, wenn lediglich behauptet werde, sich mit einem Dritten in Verbindung gesetzt zu haben in der Hoffnung, dass dieser sich dann erfolgreich an der Versteigerung beteilige. Soweit der Vollstreckungsschuldner eine ernstzunehmende Suizidgefahr für den Fall des Verlustes seines Hausgrundstückes vorträgt, habe er diese „persönliche Problematik” erstmals mit Vollstreckungsschutzantrag vom 5.4.2016 geltend gemacht. Jedoch seien Maßnahmen des Schuldners, seine gesundheitliche Situation zu verändern, nicht dargelegt worden und auch nicht ersichtlich. In Abwägung mit den Interessen des Vollstreckungsgläubigers sieht das Landgericht keine Berechtigung, Vollstreckungsschutz gem. § 765a ZPO grds. und auf Dauer zu gewähren und begründet dies wie folgt: Gemäß des vom Amtsgericht eingeholten Sachverständigengutachtens wird bei dem Vollstreckungsschuldner eine durch die Lebensumstände begründete „reaktive schwere depressive Episode ohne psychotische Symptomatik” diagnostiziert, dem das Landgericht grds. gefolgt ist. Jedoch hat es moniert, dass nicht festgestellt werden könne, ob und wie sich der Schuldner in den letzten zwei Jahren um eine Verbesserung seines Gesundheitszustandes konkret bemüht habe. Im Hinblick auf diese bereits bestehende gesundheitliche Problematik hat dem Landgericht die Erklärung des Sachverständigen, dass zu Einzelheiten wegen vorübergehender fehlender Ansprechbarkeit einzelner Beteiligter nicht Stellung genommen werden könne, nicht ausgereicht. Zusätzlich geht das LG Neubrandenburg davon aus, dass der Schuldner zahlreiche Hilfsangebote, u.a. mittels einer Betreuung, nicht angenommen habe. Zudem seien die Gründe für dessen fehlende Krankenversicherung ebenso unklar wie seine finanziellen Verhältnisse. Insoweit komme es gemäß Landgericht auch nicht mehr darauf an, inwieweit sich die Suizidgefahr durch den Immobilienverlust aufgrund des Zuschlags oder erst danach im Rahmen einer zwangsweisen Räumung hervorgerufen werde. Die Rechtsbeschwerde gegen seine abweisende Entscheidung hat das LG wegen (vermeintlich) fehlender grundsätzlicher Bedeutung (vgl. § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) nicht zugelassen. Eine Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO (vgl. dazu hier nur G. Vollkommer in Zöller, 33. Aufl., § 321a ZPO, Rn 1 f. m.w.N.) vor dem LG Neubrandenburg (Beschl. v. 9.1.2019 – 2 T 122/18) ist erfolglos geblieben.
bb) Begründung der Kammerentscheidung
Nach erster stattgebender Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG (Az.: 2 BvR 305/19, BeckRS 2019, 2691) hatte die Verfassungsbeschwerde Erfolg (§§ 93b S. 1, 93a Abs. 2b, 93c Abs. 1 S. 1, 90 Abs. 1 BVerfGG): Nach Auffassung der 3. Kammer des Zweiten Senats ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet, da der landgerichtliche Beschluss vom 11.9.2018 gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verstößt. Die Kammer verweist in ihrer Begründung auf die relevante Judikatur des Senats (vgl. BVerfGE 52, 214 ff., s. unter 1.), indem sie hervorhebt, dass das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die Vollstreckungsgerichte verpflichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Vollstreckungsschuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine danach vorgenommene Würdigung aller Umstände könne „in besonders gelagerten Einzelfällen” dazu führen, dass die Vollstreckung für „einen längeren Zeitraum” einzustellen sei. Darüberhinausgehend könne die Vollstreckung „in absoluten Ausnahmefällen” (ohne dass diese hier vom BVerfG definiert werden) auf unbestimmte Zeit eingestellt werden. Wenn die – nach BVerfG in diesen Fällen stets von den Fachgerichten vorzunehmende – konkrete Einzelfallabwägung und -würdigung zum Ergebnis führt, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben...