Nach dem Grundtatbestand des Ausweisungsrechts in § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. § 54 AufenthG benennt konkret die Gründe, wann das Ausweisungsinteresse besonders schwer oder schwer wiegt; spiegelbildlich hierzu sind in § 55 AufenthG Tatbestände normiert, denen zufolge das Bleibeinteresse besonders schwer oder schwer wiegt, wobei auch die Aufzählung der schwerwiegenden Bleibeinteressen nicht abschließend ist. § 53 Abs. 2 AufenthG zählt Gesichtspunkte auf, die bei der Abwägung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen sind, insb.:
- die Dauer des Aufenthalts,
- Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat,
- Folgen der Ausweisung für Angehörige und Partner sowie
- die Frage, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat.
Bereits im Jahr 1998 hatte das BVerwG entschieden, dass zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausweisung nicht gehört, dass sich der Ausländer noch im Bundesgebiet aufhält, dabei aber ausdrücklich offengelassen, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer ausgewiesen werden kann, der noch nie eingereist ist (BVerwG, Urt. v. 31.3.1998 – 1 C 28.97, BVerwGE 106, 302; sog. Auslandsausweisung). Diese – durch die Vorinstanz bejahte – Frage hat es durch das Urt. v. 25.5.2023 dahingehend beantwortet, dass die §§ 53 ff. AufenthG keine Rechtsgrundlage für die Ausweisung eines visumpflichtigen drittstaatsangehörigen Ausländers bieten, der noch nie in die BRD eingereist ist und sich dort aufgehalten hat (BVerwG, Urt. v. 25.5.2023 – 1 C 6.22, BVerwGE 179, 22 ff. = NVwZ 2023, 1655 ff.). Dies gilt auch dann, wenn der Ausländer im Ausland ein Ausweisungsinteresse verwirklicht hat und die Einreise in das Bundesgebiet beabsichtigt.
Bereits die in § 53 Abs. 1 AufenthG verwendeten Formulierungen „Interessen an der Ausreise” und „Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet” wiesen dem BVerwG zufolge auf das Erfordernis eines vorherigen Aufenthalts hin. Gestützt werde dieser Befund durch die gesetzliche Systematik: Die Aufenthaltsdauer stelle nach § 53 Abs. 2 AufenthG einen erheblichen Abwägungsbelang im Rahmen der nach Maßgabe von § 55 AufenthG zu berücksichtigenden Bleibeinteressen dar, wobei diese Bezeichnung ebenfalls auf die Erforderlichkeit eines Voraufenthalts deute. Dafür spreche auch die systematische Stellung der Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG in Abschnitt 1 (Begründung der Ausreisepflicht) des Kapitels 5 (Beendigung des Aufenthalts), einschließlich der in § 56 Abs. 1 AufenthG geregelten Pflicht zur Meldung bei polizeilichen Dienststellen. Eine Ausweisung ohne vorherigen Aufenthalt stehe in systematischer Hinsicht zudem nicht in Einklang mit § 11 Abs. 2 S. 4 AufenthG, wonach die Frist für das gegen den ausgewiesenen Ausländer zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Ausreise beginnt. Schließlich gebiete auch Sinn und Zweck der Ausweisung nicht, ihren Anwendungsbereich auf noch nicht eingereiste visumpflichtige Ausländer mit dem Ziel zu erstrecken, in derartigen Fällen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen zu können. Dem Zweck des Fernhaltens eines noch nie eingereisten visumpflichtigen Ausländers, der im Ausland Ausweisungsinteressen verwirklicht habe, werde durch die Grundkonzeption des AufenthG hinreichend Rechnung getragen. Gemäß § 4 Abs. 1 AufenthG bedarf es für die Einreise und den Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels. Bei Vorliegen von Ausweisungsinteressen besteht eine Titelerteilungssperre (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), die Einreise ohne den nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel gilt als unerlaubt (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und ein Ausländer, der unerlaubt an den für eine legale Einreise allein zugelassenen Grenzübergangsstellen (§ 13 Abs. 1 S. 1 AufenthG) einreisen will, wird an der Grenze zurückgewiesen (§ 15 Abs. 1 AufenthG). Bei visumpflichtigen Drittstaatsangehörigen, die sich noch nie im Inland aufgehalten hätten, drohten folglich keine wiederholten Ein- und Ausreisen. Die tatsächliche unerlaubte Einreise unter Verletzung der Visumpflicht könne auch durch ein mit einer Ausweisung erlassenes Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht verhindert werden.
Hinweis:
Mit der Aufhebung der mangels Rechtsgrundlage rechtswidrigen Ausweisungsverfügung konnte schon deshalb auch das gleichzeitig gegen den Kläger verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG keinen Bestand haben. Die Frage, ob in einer Konstellation, in der mit der Ausweisung keine Abschiebungsandrohung erlassen wird, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot ü...