1. Anspruch auf Gleichstellung
In zwei Entscheidungen vom 6.8.2014 (Az. B 11 AL 16/13 R, hierzu Beyer, juris PR-ArbR 44/2014 Anm. 6 und Az. B 11 AL 5/14 R) hat das BSG seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der Gleichstellung behinderter Menschen mit schwerbehinderten Menschen nach § 2 Abs. 3 SGB IX weiterentwickelt (hierzu Bernzen JM 2015, 19 ff.). Nach der vorgenannten Vorschrift sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie in Folge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz i.S.d. § 73 SGB IX nicht erlangen oder nicht behalten können. § 68 Abs. 3 SGB IX bestimmt, dass auf gleichgestellte behinderte Menschen die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen anzuwenden sind, mit Ausnahme des § 125 SGB IX (Anspruch auf zusätzlichen Erholungsurlaub) und der §§ 145–154 SGB IX (unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr).
Hinweis:
Im Arbeitsleben hat die Gleichstellung große Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf den besonderen Kündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX, auf die Einstellungs-/Beschäftigungsanreize für den Arbeitgeber durch Anrechnung auf die Beschäftigungspflicht/Entfallen der Ausgleichsabgabe, §§ 71 ff. SGB IX, die Vorgaben an den Arbeitgeber zur Stellenbesetzung, § 81 Abs. 1 SGB IX, Hilfen zur Arbeitsplatzausstattung nach § 81 Abs. 3 u. Abs. 4 SGB IX, die Freistellung von der Mehrarbeit, § 124 SGB IX und die Betreuung durch Integrationsfachdienste, §§ 109 ff. SGB IX.
Nach § 2 Abs. 3 SGB IX kommt eine Gleichstellung einmal in Betracht, um einen geeigneten Arbeitsplatz behalten zu können ("Behaltensalternative"), zum anderen, um einen geeigneten Arbeitsplatz erlangen zu können ("Erlangensalternative").
2. Gleichstellung zum Erhalt eines Arbeitsplatzes
Der Kläger des Verfahrens BSG (B 11 AL 16/13 R) war als Lagerarbeiter beschäftigt und konnte die an seinem konkreten Arbeitsplatz bestehenden Anforderungen trotz behinderungsbedingter Einschränkungen mit technischen Arbeitshilfen weiter erfüllen. Die gesundheitlichen Einschränkungen wirkten sich durch häufige Fehlzeiten aus. Eine innerbetriebliche Umsetzung war nach Angaben des Arbeitgebers nicht möglich, eine Kündigung nicht ausgesprochen.
Das BSG wies die Revision der BA gegen das der Klage stattgebende Berufungsurteil zurück. Es führt aus, dass zwischen der Behinderung und der Erforderlichkeit der Gleichstellung ein Ursachenzusammenhang bestehen muss, der – wie im gesamten Sozialrecht – nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu prüfen sei. Entscheidend sei, ob durch die Gleichstellung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der Arbeitsplatz sicherer gemacht werden könne. Ausreichend für die Bejahung des Ursachenzusammenhangs ist es, wenn die Behinderung zumindest eine wesentliche Mitursache für die Arbeitsmarktprobleme des behinderten Menschen ist. Um den Kausalzusammenhang zu bejahen, sei keine absolute Sicherheit im Sinne eines Vollbeweises erforderlich. Vielmehr genüge, wie auch sonst bei sozialrechtlichen Kausalitätsprüfungen, dass der Arbeitsplatz durch die Gleichstellung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sicherer gemacht werden kann. Im vorliegenden Fall gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger angesichts der Anforderungen des Arbeitsplatzes in Folge der Behinderung nicht mehr konkurrenzfähig ist. Sein Arbeitsplatz kann durch Gleichstellung sicherer gemacht werden. Einer konkret drohenden oder ausgesprochenen Kündigung bedarf es nicht, weil ansonsten eine Gleichstellung nach § 2 Abs. 3 SGB IX in aller Regel zu spät käme.
3. Gleichstellung zum Erlangen eines Arbeitsplatzes
Die Klägerin des Verfahrens BSG (B 11 AL 5/14 R) war im Mittleren Dienst vollzeitbeschäftigt und hatte sich um eine Stelle im gehobenen Dienst beworben. Nach erfolgreichem Vorstellungsgespräch lehnte der Arbeitgeber die Einstellung unter Hinweis auf ein Gutachten des ärztlichen Dienstes ab, da der Klägerin die erforderliche gesundheitliche Eignung fehle. Hiergegen klagte die Klägerin vor dem Verwaltungsgericht. Dieses Verfahren ist noch in der Berufungsinstanz anhängig.
Auch hier bestätigt das BSG die Auffassung des Berufungsgerichts, dass ein Gleichstellungsanspruch besteht, um einen geeigneten Arbeitsplatz erlangen zu können. Der Erlangenstatbestand setzt voraus, dass der behinderte Mensch einen konkreten Arbeitsplatz anstrebt. Die Vorschrift des § 2 Abs. 3 SGB IX will (auch) die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG) des behinderten Menschen schützen. Ferner geben Art. 27 Abs. 1 S. 2 lit. a und e UN-BRK und Art. 21, 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Hinweise zur Auslegung des § 2 Abs. 3 SGB IX, da nach diesen völkerrechtlichen und supranationalen Normen ein diskriminierungsfreier Zustand anzustreben ist. Dieser ist nicht bereits dadurch hergestellt, dass ein behinderter Mensch in irgendeiner Weise eine Tätigkeit ausüben kann, vielmehr muss auch der Zugang zu anderen bzw. der Wechsel von Berufsfeldern diskriminierungsfrei ermöglicht werden. Demnach steht auch die Tatsache, dass die Klägerin einen geeignete...