1. Art. 2 EMRK – Recht auf Leben
Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist (Abs. 1). Die Todesstrafe ist damit entgegen einer landläufigen Meinung durch die Konvention grundsätzlich gedeckt. Die meisten Vertragsstaaten haben die Todesstrafe jedoch abgeschafft bzw. wenden sie nicht mehr an.
Der Gerichtshof unterscheidet zwischen der Verpflichtung, einen verdächtigen Todesfall bzw. eine Tötung zu untersuchen, und der Verpflichtung, ein verdächtiges Verschwinden zu untersuchen. Er ist der Auffassung, dass die positive Pflicht nach Art. 2 EMRK, effektive Ermittlungen vorzunehmen, eine eigenständige Pflicht ist, die einen Staat selbst dann trifft, wenn der Todesfall vor dem maßgeblichen Zeitpunkt erfolgte (Šilih gegen Slowenien [GK], § 159 – der Fall betrifft einen Todesfall, der sich vor dem maßgeblichen Zeitpunkt ereignete, wohingegen Unzulänglichkeiten und Unterlassen bei den Ermittlungen zeitlich danach lagen). Der Gerichtshof hat entschieden, dass er mit Blick auf seine temporäre Zuständigkeit die Einhaltung jener Verpflichtungen wegen des Grundsatzes der Rechtssicherheit nur in Grenzen überprüfen kann (vgl. www.echr.coe.int/Documents/Admissibility_guide_DEU.pdf ).
Gray gegen Deutschland
Hier ging es um den Tod eines Patienten in seinem Zuhause im Vereinigten Königreich als Folge der Fehlbehandlung durch einen deutschen Arzt, der dem britischen nationalen Gesundheitsdienst durch einen privaten Dienstleister vermittelt worden war. Die Söhne des Patienten machten geltend, dass die Behörden in Deutschland, wo der Arzt wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde, keine effektive Untersuchung der Todesumstände ihres Vaters durchgeführt hätten. Der Gerichtshof sah keine Verletzung von Art. 2 EMRK (Urt. v. 22.5.2014, NLMR 2014, 196).
C. und T. gegen Deutschland
Im Hinblick auf die Anwendbarkeit von Art. 2 EMRK weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Satz 1 dem Staat vorschreibt, nicht nur davon abzusehen, Leben "absichtlich" zu beenden, sondern auch angemessene Maßnahmen zu treffen, um das Leben derjenigen zu schützen, die sich in seinem Hoheitsbereich befinden (s. Rs. Vo gegen Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 53924/00, Rn 88, EGMR 2004-VIII; L.C.B. gegen Vereinigtes Königreich, Urt. v. 9.6.1998, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998-III, S. 1403, Rn 36; Powell gegen Vereinigtes Königreich, Entsch. v. 4.5.2000, Individualbeschwerde Nr. 45305/99, EGMR 2000-V). Überdies setzen die positiven Verpflichtungen des Staates nach Art. 2 EMRK eine unabhängige und leistungsfähige Justiz voraus, damit die Todesursache von Patienten, die unter ärztlicher Obhut stehen, festgestellt werden kann und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können (s. Rs. Calvelli und Ciglio gegen Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 32967/96, Rn 49, EGMR 2002-I; EGMR, Urt. v. 5.3.2009, Individualbeschwerden Nr. 77144/01 und 35493/05 in: www.bmjv.de/SharedDocs/EGMR/DE/20090305_77144-01_35493-05.html ).
2. Art. 3 EMRK – Verbot der Folter
In Art. 3 EMRK ist einer der wichtigsten Grundwerte der demokratischen Gesellschaften verankert. Im Unterschied zu den meisten materiell-rechtlichen Bestimmungen der Konvention sieht Art. 3 EMRK keine Ausnahmen vor und nach Art. 15 Abs. 2 EMRK darf nicht einmal im Fall eines öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, von ihm abgewichen werden. Die Konvention enthält ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung, das unabhängig vom Verhalten des Betroffenen gilt. Eine Misshandlung muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes hängt von den gesamten Umständen des Falls ab, z.B. von der Dauer der Behandlung, ihren körperlichen oder seelischen Folgen und zuweilen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Auch die bloße Androhung einer nach Art. 3 EMRK verbotenen Handlung, sofern sie hinreichend real und unmittelbar ist, kann im Widerspruch zu dieser Bestimmung stehen (vgl. EGMR, Urt. v. 11.7.2006 – 54810/00, JA 2006, 904 ff.).
Gäfgen gegen Deutschland
Verurteilt wegen Entführung und Tötung eines Kindes, behauptete der Beschwerdeführer, die Polizei habe ihm mit Folter gedroht, um ihn zur Preisgabe des Aufenthaltsort des Kindes zu veranlassen (zu einer Zeit, als sie glaubten, der Junge sei noch am Leben) und dass im Verfahren Beweise gegen ihn Verwendung fanden, die durch Nötigung erbracht worden seien. Der Gerichtshof fand, dass die Drohungen einer unmenschlichen Behandlung gleichkamen, aber dass das Verfahren als Ganzes fair war. Der Gerichtshof stellte eine Verletzung von Art. 3 EMRK, jedoch keine Verletzung von Art. 6 EMRK fest (Urt. v. 30.6.2008 – 22978/05, EuGRZ 2008, 466 = NStZ 2008, 699).
Jalloh gegen Deutschland
Zwangsweise Verabreichung eines Brechmittels an den Beschwerdeführer (d...