Hiervon zu trennen sind im Ausgangspunkt anerkennenswerte Motivationen taktischer Natur, Klageerweiterungen, Widerklagen oder Gestaltungsrechte wie ordentliche oder fristlose Kündigungen. Diese werden aus prozesstaktischen Gründen erst dann in die mündliche Verhandlung eingeführt, wenn z.B. die gütliche Einigung vor Beginn der streitigen Verhandlung zu Hauptsache gescheitert ist (diese wichtige Differenzierung übersehen leider Hettenbach/Müller, a.a.O., völlig). Solche Klageerweiterungen, Widerklagen wie auch neue Gestaltungserklärungen verbunden mit neuen Sachanträgen unterliegen nämlich grds. nicht der Präklusion nach § 296 ZPO (insoweit zutreffend Hettenbach/Müller, a.a.O., m.w.N. aus der Rspr.), da es sich dabei um Erweiterungen ursprünglicher Angriffsmittel oder den Gegenangriff selbst handelt, welche allein anhand von § 263 ZPO zu behandeln sind (BeckOK-ZPO/Bacher, Stand 1.3.2022, § 296 ZPO Rn 13 m.w.N.). Die Zurückhaltung neuer Sachanträge bis zur Hauptverhandlung aus prozesstaktischen Gesichtspunkten mag zwar im wohlverstandenen Interesse von Rechtsanwälten liegen, die Interessen ihrer Mandantschaft möglichst optimal zu vertreten, jedoch wird häufig übersehen, dass § 263 ZPO hierfür auch Grenzen setzt (auch das wird von Hettenbach/Müller, a.a.O., offenbar übersehen). So ist es in Literatur und Rechtsprechung nämlich durchaus anerkannt, dass Sachdienlichkeit nach § 263 ZPO jedenfalls dann zu verneinen ist, wenn mit der neuen Klageerweiterung, Widerklage oder Gestaltungserklärung ein völlig neuer Streitstoff eingeführt wird, bei dessen Beurteilung die bisherigen Prozessergebnisse nicht verwertet werden können (BGH, Urt. v. 30.11.1999 – VI ZR 219/98, NJW 2000, 800, 803; Zöller/Greger, a.a.O., § 263 ZPO Rn 13). Gleiches kann unter dem prozesswirtschaftlichen Gesichtspunkt der vorwerfbaren Prozessverschleppung angenommen werden (Zöller/Greger, a.a.O., § 263 ZPO Rn 13 u. § 282 ZPO Rn 3 m.w.N.).
Praxishinweis:
Sofern also in einen perfekt vorbereiteten Hauptverhandlungstermin, bei welchem die anwaltlich vertretenen Parteien Gelegenheit zu Replik und Duplik erhalten haben und der Streitstoff umfassend aufgearbeitet wurde, eine Partei einen Schriftsatz erst unmittelbar in der mündlichen Verhandlung übergibt und die Gegenpartei unverzüglich Verspätung nach § 296 ZPO rügt oder einer Klageerweiterung bzw. Widerklage oder Gestaltungserklärung entgegentritt, kann eine Nichtberücksichtigung unter zwei Gesichtspunkten begründet werden: Zum einen kann das Gericht annehmen, dass die verspätete Übergabe des Schriftsatzes ohne sachlichen Grund erfolgte und insb. dann, wenn der betreffende Rechtsanwalt die Frist des § 282 ZPO mühelosâEUR™hätte einhalten können, von einem Verschulden ausgehen, welches zur Grundlage einer vorwerfbaren Prozessverschleppung gemacht wird. Zum anderen kann das Gericht auch für den Fall eine Klageerweiterung oder Widerklage zum Schluss kommen, dass ein neuer Prozessstoff eingeführt wurde, für den der bisherige Parteivortrag ohne Relevanz ist, sodass eine Sachdienlichkeit nach § 263 ZPO verneint werden kann.