Der Journalist Joachim Wagner hat im Jahre 2014 ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel "Vorsicht Rechtsanwalt" (C.H. Beck Verlag) vorgelegt. Viele der darin geäußerten Beobachtungen und Thesen sind zutreffend. Einige der darin gemachten Behauptungen, Beschreibungen oder Folgerungen sind aber schlicht falsch. Als Beleg für den Werteverfall der Anwaltschaft sieht Wagner u.a. die Einlegung von Rechtsmitteln im alleinigen Gebühreninteresse der Anwaltschaft (a.a.O., S. 247 ff.). Das mag abstrakt zutreffend sein, aber die von Wagner als Beleg hierfür angeführten Fälle rechtfertigen diesen Schluss im konkreten gerade nicht.
Als Beispiel dienen ihm strafgerichtliche Fälle, in denen von Verteidigern Berufungen eingelegt wurden, der Mandant hiervon aber nichts wusste, oder die Berufung nach einer Vorerörterung mit dem Vorsitzenden des Berufungsgerichts oder nach einer kurzen Verhandlung ohne volle Beweisausschöpfung zurückgenommen wurde. Derartige Fälle entsprechen zwar der Tatsachenlage, aber die von Wagner hieraus gezogenen Schlussfolgerungen sind falsch. Ginge es nämlich nur um das Gebühreninteresse, müssten die Berufungen durchgeführt und sodann noch Revision eingelegt werden. Das gegensätzliche Verhalten kann damit das (ausschließliche) Gebühreninteresse gerade nicht belegen. Wagner verkennt die in der Realität praktizierte Subjektivität der Beweiswürdigung und Strafzumessung.
Wenn ein Fall – wie fast immer – "so oder anders ausgehen kann" (so mit Recht Greger, Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht – ein Menetekel aus Karlsruhe, NJW 2003, 2882 f.), ist die Berufung und Berufungsrücknahme – wenn angekündigt wird, dass es bei dem "so" bleibt – de lege artis und gerade nicht im Gebühreninteresse. Auch Berufungseinlegungen ohne Wissen des Mandanten sind angesichts der kurzen Fristen (1 Woche ab mündlicher Verkündung) und Nachlässigkeit und schweren Erreichbarkeit mancher Mandanten manchmal unvermeidbar, um den gebotenen "sichersten Weg" zu erhalten. Der Verfasser kennt diverse Fälle, in denen Kollegen gerade zum Vorwurf gemacht wurde, trotz Unerreichbarkeit des Mandanten, die Berufungsfrist nicht gewahrt zu haben. Solange der Mandant kein Geständnis ablege, solle "klar" sein, dass Berufung eingelegt werden musste. Wer darüber hinaus zur Kenntnis nimmt, dass die konkrete Strafzumessung noch subjektiver als die Beweiswürdigung ist, wird eine Berufung kaum als ausschließlich im eigenen Gebühreninteresse verstehen können.
Dass es zu vielen – im Ergebnis – aussichtslosen Berufungen kommt, liegt ganz vorwiegend im praktizierten System der weitgehend freien (subjektiven) und damit kaum prognostizierbaren Beweiswürdigung und Strafzumessung. Der eigentliche Skandal bei Strafzumessungen liegt in dem Schulterschluss zwischen Staatsanwaltschaften und Gerichten und dem Akzeptieren eines untragbaren Zustands durch die Anwaltsorganisationen. In diversen Gerichtsbezirken gibt es zu bestimmten Delikten (z.B. BtMG, Steuerhinterziehung, Straßenverkehr, Vermögensstraftaten) sog. Strafzumessungstabellen oder "Regelfallempfehlungen". Diese sind zwischen den Abteilungsleitern der Staatsanwaltschaften und Gerichten vereinbarte Strafen für bestimmte Delikte, die z.B. nach Drogenmenge, BAK, Höhe des Vermögensschadens geordnete Strafen für den Regelfall vorsehen.
Der Anwaltschaft werden entsprechende Listen aber vorenthalten. Nur der Anwalt, der über persönliche Kontakte zu Gericht oder Staatsanwaltschaft verfügt, kann eine entsprechende Liste beschaffen. Wer die Liste hat, gibt sie nicht weiter, weil er nun seinerseits eine Exklusivstellung hat und als Spezialist par excellence gilt, nachdem er Straften punktgenau "vorhersagen" kann. Gegenüber dem Einzelanwalt wird die Existenz entsprechender Listen sogar geleugnet oder als Interna ausgegeben. Die Anwaltschaft nimmt damit kollektiv – als angeblich gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege – an einem Spiel teil, dessen Regeln teilweise verborgen gehalten werden. Eine Justiz, die sich über Überlastung und sinnlose Strafmaßberufungen wendet, aber umgekehrt entsprechende Listen verborgen hält, verhält sich nicht nur widersprüchlich, sondern grob unfair.
Auch (aussichtslose) Berufungen im Zivilrecht, deren Kosten aber von einer Rechtsschutzversicherung getragen würden, nimmt Wagner als Beleg für den Missbrauch formaler Rechte ausschließlich im eigenen Gebühreninteresse an. Auch hier verkennt er die tatsächlichen Realitäten. Aussichtslose Berufungen, die von einer Rechtsschutzversicherung finanziert werden, gibt es nicht und sind nach den Versicherungsbedingungen nicht möglich.
Geringe Erfolgsquoten der Berufung erklären sich wiederum aus einer Subjektivität der Tatsachenfeststellung und einer Unprognostizierbarkeit der berufungsrechtlichen Kontrolle. Diese kann hoch sein, wie sie z.B. vom 10. Zivilsenat des OLG München ausgeführt wird. Der dortige Vorsitzende teilt seine Erfahrung mit, dass in den zehn LG-Bezirken, die der Kontrolle des 10. Senats unterlägen, nicht einmal die Hälfte der Bewei...