Sind mehr als 20.000 EUR (noch) im Streit (Wert der Beschwer für eine Nichtzulassungsbeschwerde gem. § 26 Nr. 8 EGZPO), gibt es in der Zivilgerichtsbarkeit i.d.R. einen dreistufigen Gerichtsaufbau, der beim BGH endet. Ebenso endet der Instanzenzug in Strafsachen beim BGH, sofern das LG Eingangsinstanz war. Eine Kontrolle durch den BGH erscheint damit in den wesentlichen Fällen gewährleistet. In der Wahrnehmung von Bürgern, Anwälten und Richtern erscheint ein Urteil, das von der Revisionsinstanz unangetastet gelassen wurde, als richtig. Das gilt sowohl für den Strafprozess (vgl. Paeffgen/Wasserburg, Geheimnisse des Systems der Kontrolle, GA 2012, 535 ff.) als auch für den Zivilprozess (vgl. Winter, Die Nichtzulassungsbeschwerde – ein Scheinrechtsmittel, NJW 2016, 922 ff.). Hierbei handelt es sich um eine Realitätsverzerrung, denn die Revisionsinstanz kontrolliert bestimmte (auch fehleranfällige) Bereiche nur am Rande. Das gilt vor allem für tatrichterliche Wertungen und Würdigungen, was allerdings gerade den Kern der alltäglichen juristischen Praxis ausmacht. Im Strafprozess steht einer effektiven Kontrolle das Nichtvorhandensein eines Inhaltsprotokolls und das sog. Rekonstruktionsverbot entgegen, so dass selbst Richter des BGH nur von einem ineffektiven Rechtsschutz sprechen (Eschelbach in: Graf, Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2012, § 261 Rn 59 ff.). Im Zivilprozess gibt es ein Inhaltsprotokoll und das Rekonstruktionsverbot gilt folgerichtig dort nicht. Damit wäre eine effektive Kontrolle durch den BGH an sich möglich. Der Gesetzgeber hat allerdings vor allem durch die ZPO-Reform von 2002 die Statthaftigkeit von Nichtzulassungsbeschwerden erst ab einer Beschwer von 20.000 EUR zugelassen. Aber auch statthafte Nichtzulassungsbeschwerden, wie das Reformgesetz sie im § 544 ZPO n.F. normiert hat, bieten keine ausreichende Kontrolle. Selbst nach deren Konstruktion fallen falsche Urteile durch das Netz der revisionsgerichtlichen Überprüfung. Das sagt der BGH besonders deutlich in seinem Beschluss vom 19.12.2002 (Az. VII ZR 101/02): „Die offensichtliche Unrichtigkeit eines Urteils ist allein kein hinreichender Grund, die Revision zuzulassen“ (BGH NJW 2003, 831). Sogar „schwere und offensichtliche Rechtsfehler“ begründen die Zulassung der Revision nicht (BGHZ 152, 182, 188 f.).
Die wissenschaftliche Auswertung der Entscheidungen der Strafsenate des BGH aus den Jahren 1981–1996 (= 67.000 Entscheidungen) hat ergeben, dass die Rechtsprechung nicht funktioniert, wie sie im Buche steht, sich das richterlich praktizierte Entscheidungsprogramm vom kodifizierten Gesetzestext gelöst hat und die Revision einem Spiel gleicht, bei dem die Schiedsrichter die Spielregeln flexibel handhaben (vgl. Barton, Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen, S. 282 ff.). Qualifizierten Revisionsverteidigern, die nicht zynisch werden wollen, wurde die Empfehlung gegeben, lieber gleich in das Zivil- oder Verwaltungsrecht zu wechseln (vgl. Becker Berliner Anwaltsblatt 1997, 350). Im Verfassungsprozessrecht wurde bereits empfohlen, die Individualverfassungsbeschwerden aufgrund ihrer geringen Erfolgsquoten (derzeit bei Urteilsverfassungsbeschwerden unter 2 %) abzuschaffen, denn durch überstrenge und nicht bekannte Zulässigkeitskriterien könne Individualrechtsschutz nicht gewährleistet sein. Weiter war bekannt, dass die Zulässigkeitskriterien bei der Urteilsverfassungsbeschwerde de facto unbekannt sind. Diese kann nur derjenige kennen, der die Bände der amtlichen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts, die Kammerrechtsprechung und die Aufsätze des Berichterstatters kennt (vgl. Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl., § 90 Rn 23 m.w.N.). Die flexible und von der Arbeitsbelastung abhängige Handhabung der Zulässigkeitskriterien (vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl., Rn 244, 275 m.w.N.; Lübbe-Wolff, Substantiierung und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, EuGRZ 2004, 669 f.), die ihrerseits nach einem Beschluss des Plenums des BVerfG verfassungswidrig ist (vgl. BVerfGE 54, 277 ff.), hat damit Zweifel an der Funktion der Verfassungsbeschwerde geweckt, die dem Bürger mehr verspricht, als sie hält.
Dieser Befund gilt auch für den Zivilprozess. Der bisher nur aus dem Strafprozess bekannte und besorgniserregende Umstand, dass es zu Lasten des Angeklagten Unterschiede in der Senatsrechtsprechung gibt, die weder durch die Sache, noch statistisch erklärt werden können (vgl. Fischer, Der Einfluss des Berichterstatters auf die Ergebnisse strafrechtlicher Revisionsverfahren, NStZ 2013, 425 ff.; Barton, Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in: Festschrift für G. Fezer, 2008, 333 ff.), hat sich nun auch für den Zivilprozess gezeigt. Der I. Zivilsenat hat z.B. im Jahr 2014 auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin die Revision in 20 % der Fälle zugelassen, während der XI. Zivilsenat dies im selben Zeitraum nur in 2,7 % der Fälle getan hat. Durch eine unterschiedliche Qualität der vorangehenden Berufungsentschei...