Das Berufsbild des Rechtsanwalts hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Der Trend von der individualistischen Berufsausübung in einer örtlichen Kanzlei hin zur beruflichen Zusammenarbeit in grenzüberschreitend tätigen Sozietäten, die immer stärkere Spezialisierung und die fortschreitende Digitalisierung sind nur ein paar Beispiele für die erheblichen Umwälzungen auf dem Anwaltsmarkt. Der Gesetzgeber kommt kaum hinterher, diesen Entwicklungen durch Reformen des anwaltlichen Berufsrechts Rechnung zu tragen. Oft genug bedarf es erst Entscheidungen des BVerfG, um Neuregelungen anzustoßen.
Das anwaltliche Berufsrecht entwickelt sich dabei nicht immer linear und konsistent, weil es kein geschlossenes System darstellt. Vielmehr handelt es sich um eine in zahlreiche autonome Entwicklungsstränge aufgespaltene Querschnittsmaterie. Nicht einmal innerhalb der einzelnen Teilstränge findet seitens der Rechtsprechung eine einheitliche Ausdifferenzierung statt, die sowohl der Rechtspraxis als auch dem Normgeber Anhaltspunkte zur weiteren Verhaltenssteuerung liefern könnte. Die Auslegung des anwaltlichen Berufsrechts ist auch davon abhängig, in welchem Rechtsweg eine Berufspflicht Bedeutung erlangt. Die Justiz kann nämlich aus ganz unterschiedlichen Gründen berufen sein, über die Reichweite berufsrechtlicher Regelungen zu befinden.
Dies lässt sich am besten am Beispiel des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen verdeutlichen: So kann das Vorliegen eines Interessenkonflikts i.S.d. § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA in einem berufsgerichtlichen Verfahren nach den §§ 113 ff. BRAO von Bedeutung sein. Zuständig hierfür ist die Anwaltsgerichtsbarkeit mit dem Anwaltsgericht (AnwG) als Eingangs-, dem Anwaltsgerichtshof (AGH) als Berufungs- und dem Senat für Anwaltssachen beim BGH als Revisionsinstanz. Oft führen Interessenkonflikte nur zu einem belehrenden Hinweis der Rechtsanwaltskammer, in dem diese den betroffenen Anwalt auf einen vermeintlichen Verstoß gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen hinweist und die Fortführung des Mandats untersagen will. Insoweit handelt es sich um eine verwaltungsrechtliche Anwaltssache (§§ 112a ff. BRAO), für die, wie für das berufsgerichtliche Verfahren, die Anwaltsgerichtsbarkeit zuständig ist. Eingangsinstanz ist hier allerdings der AGH. Die Berufungsinstanz bildet (systemwidrig) der Senat für Anwaltssachen des BGH, und das einschlägige Verfahrensrecht ist der VwGO zu entnehmen (vgl. die Überlegungen zur Neuausrichtung der Anwaltsgerichtsbarkeit bei Deckenbrock AnwBl 2015, 365; Kilian NJW 2016, 137).
Der Beschluss des BGH vom 2.6.2017 (Az. AnwZ [Brfg] 26/16) zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten, die selbst Anwälte mit dieser ungewöhnlichen Struktur haben. Wird dem Anwalt demgegenüber vorsätzliches Fehlverhalten zur Last gelegt, droht ihm sogar eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Parteiverrats nach § 356 StGB. Immer wieder kommt es daher vor, dass die Strafsenate des BGH in letzter Instanz über die Reichweite eines Tätigkeitsverbots entscheiden. Schließlich können Interessenkonflikte in zivilrechtlichen Rechtsstreitigkeiten eine Rolle spielen: Ein Anwalt kann etwa versuchen, den gegnerischen Prozessbevollmächtigten im Wege einer wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklage zur Mandatsniederlegung zu zwingen. Weitere Beispiele sind Streitigkeiten über die Wirksamkeit eines Anwaltsvertrags (§ 134 BGB) und über die Folgen einer Kündigung wegen eines Interessengegensatzes (§§ 627 f. BGB). Bisweilen spielt die Reichweite des Verbots der Vertretung widerstreitender Interessen auch in Kostenfestsetzungsverfahren eine Rolle. Es hängt mithin vom Einzelfall ab, welchem Zivilsenat des BGH die letztinstanzliche Zuständigkeit zukommt.
Bereits diese nicht abschließende Aufzählung zeigt, dass über anwaltliches Berufsrecht – entgegen einem weit verbreiteten Trugschluss – nicht allein die Anwaltsgerichtsbarkeit, in der auch Rechtsanwälte als Richter fungieren, entscheidet. Nicht nur in der Frage der Interessenkonflikte offenbart eine Analyse der Rechtsprechung des BGH dabei, dass die Wertungen der Senate alles andere als deckungsgleich sind. Dies wird insbesondere auch bei der Frage der Spezialistenbezeichnungen, zu der der I. Zivilsenat und der Anwaltssenat unterschiedliche Standpunkte vertreten (s. dazu unten V. 2.), und im anwaltlichen Gesellschaftsrecht, wo insbesondere der II. Senat die vorhandenen Beschränkungen viel weitgehender als der Anwaltssenat verfassungsrechtlich hinterfragt hat (s. dazu unten III. 1.), deutlich.
Der folgende Report soll einen Überblick über wesentliche Gesetzesänderungen und die wichtigste Rechtsprechung im anwaltlichen Berufsrecht geben. In diesem Rahmen werden auch verborgene Zusammenhänge und etwaige Widersprüche aufgezeigt und rechtspolitische Versäumnisse angesprochen. Die folgenden Ausführungen, die aus Platzgründen (dieses Mal) das anwaltliche Vergütungsrecht noch weitgehend außer Acht lassen, widmen sich im Wesentlichen den Entw...