I. Braucht eine Kanzlei ein Leitbild?
Schon lange sind Leitbilder in Organisationen ein großes – wenn auch mitunter umstrittenes – Thema. Befürworter eines Leitbildes sehen darin eine Möglichkeit, organisationsintern eine gemeinsame Orientierung und Motivation zu schaffen. Ziele, Werte und Grundhaltungen werden definiert und schriftlich festgehalten. Extern vermittelt es einen positiven Einfluss auf die Darstellung und das Image einer Organisation. Kritiker von Leitbildern bemängeln, dass es sich dabei nur um eine Ansammlung formulierter Phrasen handele: "Meine Mitarbeiter halten sich sowieso nicht an das, was im Leitbild steht!" oder: "Das sind alles nur leere Worthülsen, die gleich nach ihrer Entstehung wieder in der Schublade landen!"
Lohnt sich also der Aufwand, ein Leitbild für die Kanzlei zu erstellen? Um es vorwegzunehmen: Ja. Insbesondere mittelständische und große Kanzleien sollten dieses Instrument nutzen, um sich mit einem klaren Konzept am Markt zu präsentieren. Aber auch kleine Kanzleien können davon profitieren, wenn sie sich einmal mit den Inhalten eines Leitbildes auseinandersetzen: Was sind die Kernkompetenzen der Kanzlei? Wo sind Stärken, wo Schwächen?
Jede Fehlentscheidung im Kanzleialltag kostet Geld, Nerven und schlimmstenfalls auch Mandanten. Daher ist es wichtig, bei schwierigen Entscheidungen oder Konfliktsituationen auf ein kanzleiinternes Navigationssystem zurückgreifen zu können, das alle Kanzleimitglieder unterstützt und wegweisend ist – denn das ist die Aufgabe eines Leitbildes. Bleicher versteht das Leitbild als ein "realistisches Idealbild", ein Leitsystem, an dem sich das gesamte organisatorische Handeln orientiert (Bleicher, Das Konzept Integriertes Management, 7. Aufl., S. 431 ff.).
Dabei sollte das Leitbild die Kanzlei zu 100 Prozent abbilden. Echte Leitbilder spiegeln den Kanzleialltag wider; mit den Formulierungen und verwendeten Begriffen sollten tatsächliche Werte, gemeinsame Ziele, konkrete Tätigkeitsabläufe und vieles mehr erfasst werden.
Hinweis:
Mit der Verwendung nicht ernst gemeinter Floskeln oder Worthülsen werden unter Umständen Erwartungen bei Mitarbeitern und Mandanten hervorgerufen, die bei Nichteinhaltung mehr schaden als nutzen.
Für die Entwicklung eines Leitbildes ist es wichtig, dass alle – Berufsträger und Mitarbeiter – an der Erstellung und Umsetzung beteiligt sind. Ein Leitbild, das alleine von der Kanzleiführung entwickelt wird, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich sein. Genauso wichtig ist es, dass die Führungskräfte die Inhalte vorleben. Liegen diese Voraussetzungen vor, kann das gemeinsam entwickelte und erfolgreich umgesetzte Kanzlei-Leitbild die Basis für eine positive Weiterentwicklung der Kanzlei bedeuten: Mit einer (wirtschaftlich) erfolgreichen Marktpositionierung und einem motivierten Kanzlei-Team, das weiß und versteht, was zu tun ist und welchen wertschöpfenden Beitrag jeder Einzelne leistet. Die Arbeit erhält eine Richtung und damit einen weiteren Sinn.
II. Funktionen oder Merkmale von Leitbildern
Ein Leitbild sollte damit kanzleiintern und -extern, also auch gegenüber Dritten, Antworten auf die folgenden Fragen geben:
- Wer sind wir?
- Wem nutzen wir?
- Was wollen wir gemeinsam erreichen?
- Wie wollen wir zusammenarbeiten?
Zur Beantwortung dieser Fragen erfüllt das Leitbild zahlreiche Funktionen. Es dient den Kanzleimitgliedern als Grundlage für die Identitätsfindung. Zudem kann es einen Beitrag zur Steigerung der Mitarbeitermotivation leisten und eignet sich als Handlungsorientierung für das Tagesgeschäft. Außerdem erleichtert es die Positionierung der Kanzlei am Markt, schafft eine hohe Mandantenorientierung, eignet sich zur Mandanten- und Bewerberakquise und schafft Vertrauen. Die einzelnen Funktionen für die Kanzlei werden im Folgenden erläutert.
1. Grundlage für die Identitätsfindung
Ein Leitbild und dessen Entwicklungsprozess führen i.d.R. zu einer Stärkung des "Wir-Gefühls" der Kanzleimitglieder: Es findet eine Identifizierung mit der Sache und mit den Kollegen statt; die Grundlage für die tägliche Arbeit wird entwickelt und damit die Voraussetzung geschaffen, sich auf dem umkämpften Anwaltsmarkt zu behaupten.
Hinweis:
Die Beteiligung aller Mitarbeiter über sämtliche Hierarchieebenen hinweg an dem Entwicklungsprozess bewirkt, dass sich alle mit der Kanzlei identifizieren können, sich gegenseitig wertschätzen und Respekt füreinander aufbringen.
2. Steigerung der Mitarbeitermotivation
Das gemeinsame Erreichen des Ziels und die im Leitbild festgehaltene Vision wirken motivierend auf die Kanzleimitglieder.
Hinweis:
Der Berufsträger sollte als Führungskraft die im Leitbild verankerte Führungskultur und die enthaltenen Werte vorleben. Dies steigert die Motivation und regt zur Nachahmung an.
3. Handlungsorientierung für das Tagesgeschäft
Das Leitbild bildet den Rahmen für das Tagesgeschäft. Wird es konkret formuliert, kann es handlungsleitend sein.
Praxishinweis:
Verwendete Methoden oder Maßnahmen zum Erreichen der Ziele sollten gegenüber Dritten nicht preisgegeben werden – ebenso wenig wie die verfolgten Strategien. Das ist "Geschäftsgeheimnis"!
4. Klare Positionierung
Leitmotto und Leitmotiv (s. unten IV. 2.) bringen die Vorzüge der Kanzlei auf den Pu...