aa) Regel-Ausnahme-Verhältnis
Nach allgemeiner Ansicht ist auch im Bereich des § 4 BKatV – also z.B. bei Geschwindigkeitsüberschreitung oder Rotlichtverstoß – alleinige Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Fahrverbots § 25 Abs. 1 S. 1 StVG geblieben (vgl. aus der Rspr. nur BGHSt 38, 125 [s.o.]; 43, 241 = NJW 1997, 3252 = NZV 1997, 525; OLG Dresden DAR 2001, 318; OLG Rostock zfs 2004, 480; Burhoff/Deutscher, OWi, Rn 16127 ff., 1629 ff.). § 4 Abs. 1 BKatV stellt lediglich für die dort ausdrücklich genannten besonders schwerwiegenden Verkehrsverstöße eine Konkretisierung der eigentlichen Androhungsnorm des § 25 StVG dar. Daraus folgt, dass das Vorliegen einer der Fälle des § 4 BKatV nicht bereits als solches für die Anordnung des Fahrverbots genügt oder dies gar zwingend macht. Zusätzlich müssen vielmehr auch die Merkmale des § 25 Abs. 1 StVG – also in objektiver und subjektiver Hinsicht eine grobe Pflichtwidrigkeit – erfüllt sein.
Um eine grobe Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 25 Abs. 1 S. 1 StVG handelt es sich, wenn eine Verhaltensweise vorliegt, die objektiv von besonderem Gewicht ist, da sie immer wieder die Ursache schwerer Unfälle darstellt, und subjektiv auf besonders grobem Leichtsinn, grober Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit beruht, also eine besondere Verantwortungslosigkeit darstellt und besonders verwerflich ist. § 4 BKatV schafft nun bereits auf der Tatbestandsseite des § 25 StVG für die dort genannten Katalogfälle ein Regel-Ausnahme-Verhältnis. Bei diesen Katalogfällen handelt es sich um gesetzlich vertypte Vermutungen für grob pflichtwidrige Verkehrsverstöße, die grobe Pflichtwidrigkeit wird durch sie indiziert (Burhoff/Deutscher, OWi, Rn 1635 ff.). Da aber nach der Rechtsprechung der OLG § 25 Abs. 1 S. 1 StVG die alleinige Rechtsgrundlage für die Anordnung des Fahrverbots geblieben ist, handelt es sich um eine widerlegliche Vermutung. Das bedeutet, dass trotz Vorliegens einer Katalogtat die besonderen Umstände des Einzelfalls die Vermutungs- und Indizwirkung für eine grobe Pflichtwidrigkeit entkräften können. Auch bei Begehung einer Katalogtat sind die Tatbestandsvoraussetzungen für ein Fahrverbot also nicht erfüllt, wenn ausnahmsweise der Täter nicht besonders verantwortungslos gehandelt hat oder er nicht den erforderlichen Grad der Gefahr geschaffen hat. Allerdings wird z.B. nicht von einem Fahrverbot abgesehen bei nur geringfügiger Überschreitung des Gefahrengrenzwerts bei § 24a StVG (OLG Bamberg VRR 2013, 115; OLG Hamm VRR 2009, 430; m.w.N. bei Burhoff/Deutscher, OWi, Rn 1297).
bb) Subjektive Vorwerfbarkeit/Augenblicksversagen
(1) Allgemeines
An dieser Stelle hat die Rechtsprechung des BGH zum "Augenblicksversagen" im Beschluss von 11.9.1997 (BGHSt 43, 241 [s.o.]) Bedeutung für die anwaltliche Tätigkeit: Der BGH hat in der Entscheidung bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung – die Rechtsprechung ist auch auf den Rotlichtverstoß ausgedehnt worden (vgl. u.a. OLG Hamm VRS 96, 64 = NZV 1999, 176) – die Anordnung eines Fahrverbots dann abgelehnt, wenn das die Geschwindigkeit beschränkende Verkehrszeichen infolge leichter Fahrlässigkeit, d.h. infolge eines sog. Augenblicksversagens, übersehen wurde (BGH a.a.O., zu allem auch Burhoff/Deutscher, OWi, Rn 1441 ff.; Burhoff VA 2001, 169; Krumm VRR 2005, 126; Fromm VRR 2010, 410). Es fehle dann an dem subjektiven Element der groben Pflichtwidrigkeit.
Hinweis:
Folge dieser Rechtsprechung ist, dass dann, wenn ein Augenblicksversagen zu bejahen ist und ein Fahrverbot nicht verhängt wird, nicht die Geldbuße – wegen des Absehens vom Fahrverbot – erhöht werden darf (OLG Bamberg StraFo 2016, 116 = VRR 4/2016, 13; OLG Hamm NZV 1998, 334 = DAR 1998, 323; OLG Naumburg zfs 2016, 594; Burhoff/Deutscher, OWi, Rn 1444;), denn es handelt sich nicht um einen "typischen" Fall des Absehens vom Fahrverbot. Vielmehr darf das Fahrverbot, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen schon aus anderen Gründen nicht vorliegen, überhaupt nicht verhängt werden. Damit liegt die Grundvoraussetzung für ein Absehen vom Fahrverbot und damit für eine Erhöhung der Geldbuße nicht vor.
Allerdings macht der BGH (BGHSt 43, 241 [s.o.]) von seinen Vorgaben zwei Einschränkungen:
- Die Bußgeldstellen und die Gerichte dürfen von dem Grundsatz ausgehen, dass Vorschriftszeichen von Verkehrsteilnehmern i.d.R. wahrgenommen werden. Die Folgen eines möglichen Übersehens müssten deshalb nur dann geprüft werden, wenn sich dafür Anhaltspunkte ergeben oder der Betroffene dies im Verfahren einwendet. Auch, wenn die Herabsetzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nur durch ein einmalig und einseitig aufgestelltes Vorschriftszeichen erfolgt, soll nichts anderes gelten (vgl. OLG Celle VRS 131, 319; a.A. OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.2.2017 – (1) 53 Ss-OWi 56/17 (34/17), es sei denn, es treten weitere besondere Umstände hinzu (OLG Celle a.a.O.).
- Der BGH geht davon aus, dass selbst dann, wenn ein Übersehen des Verkehrszeichens nicht zu widerlegen ist, eine grobe Pflichtwidrigkeit auch in subjektiver Hinsicht nicht ausgeschlossen ist, wenn das Übersehen des Verkehrszeichens selbst auf grober Nachlässigkeit...