a) Gesundheitliche und geistige Einschränkungen
Bei der Prüfung des § 140 Abs. 2 StPO sind auch die in der Person des Angeklagten liegenden Umstände zu berücksichtigen. Wer mit geistigen Beeinträchtigungen leben muss, ist sehr viel schneller mit der Wahrnehmung seiner Rechte überfordert und daher u.U. in weitaus höherem Maße auf den Beistand eines Verteidigers angewiesen als Gesunde. Dennoch kommt es bei der Prüfung der Selbstverteidigungsfähigkeit immer wieder zu schwer nachvollziehbaren Entscheidungen, bei deren Lektüre man oftmals nur staunen kann, welche Beeinträchtigungen der Selbstverteidigungsfähigkeit unbeachtlich sein sollen und was manch Angeklagtem zugemutet wird.
So sollte es nicht des Eingreifens einer Beschwerdekammer bedürfen, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass ein unter motorischen Sprachstörungen leidender, unter Betreuung stehender Angeklagter, dessen Betreuer u.a. zur "Vertretung gegenüber Behörden" bestellt ist, nicht in der Lage ist, sich in einem Strafverfahren selbst zu verteidigen (so aber in dem der Entscheidung LG Berlin StV 2016, 487 zugrunde liegenden Fall). Wer selbst bei Alltagsvorgängen im Umgang mit Behörden überfordert ist und der Unterstützung durch einen Betreuer bedarf, ist in einem Strafverfahren, das ungleich belastender ist und in dem erhebliche Grundrechtseingriffe drohen, erst recht nicht in der Lage, sich selbst zu vertreten.
Hinweis:
Ein unter Betreuung stehender Angeklagter muss sich auch nicht darauf verweisen lassen, dass der Betreuer in der Hauptverhandlung anwesend sein kann. Die Aufgaben des Betreuers unterscheiden sich von jenen eines Strafverteidigers grundlegend (LG Oldenburg NdsRpfl 2016, 315). Dies gilt auch dann, wenn der Betreuer des Angeklagten selbst Rechtsanwalt ist (OLG Naumburg BtPrax 2017, 83).
Auch eine langjährige, schwer behandelbare psychiatrische Erkrankung (dissozial-narzisstische Persönlichkeitsstörung) kann die Mitwirkung eines Verteidigers gebieten (OLG Hamburg StV 2018, 143). Gleiches gilt für einen reifeverzögerten Heranwachsenden mit stark beeinträchtigten geistigen Fähigkeiten (OLG Hamburg StV 2017, 724).
Hinweis:
Drogenabhängigkeit führt dagegen für sich allein noch nicht zur Verteidigungsunfähigkeit (KG, Beschl. v. 23.2.2016 – 3 Ws 87/16, ZAP EN-Nr. 422/2016). Hier bedarf es darüber hinaus weiterer Umstände, die die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich machen. Anhaltspunkte hierfür können eine Betreuerbestellung sein oder Ausführungen in einem Sachverständigengutachten zur Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, wenn sich dort Erkenntnisse etwa über eine drogenbedingte Persönlichkeitsstörung und dergleichen finden.
b) Sprachprobleme
Immer wieder für Streit sorgt in der Praxis auch die Frage, unter welchen Voraussetzungen einem Angeklagten, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist. Auf Sprachschwierigkeiten gestützte Anträge stoßen immer wieder auf Widerstand, der i.d.R. damit begründet wird, dass doch die Anklageschrift übersetzt worden sei und in der Hauptverhandlung ein Dolmetscher zugegen wäre. Unzureichende Sprachkenntnisse des Angeklagten können aber durch die Bestellung eines Dolmetschers jedenfalls dann nicht vollständig ausgeglichen werden, wenn im Einzelfall komplexe Rechtsfragen zu prüfen sind (so zu Recht LG Detmold InfAuslR 2017, 131 für ein Verfahren, in dem außer nebenstrafrechtlichen Bestimmungen auch verwaltungsrechtliche Vorschriften zu erörtern waren). Zudem kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers – auch in rechtlich und tatsächlich einfach gelagerten Fällen – dann geboten sein, wenn es bei der Übersetzung eines Strafbefehls/einer Anklage zu Fehlern gekommen ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagte aufgrund sprachbedingter Verständigungsschwierigkeiten nicht in der Lage war, alle Möglichkeiten einer angemessenen Verteidigung auszuschöpfen (LG Frankfurt/M., Beschl. v. 30.6.2018 – 5/17 Qs 26/17).
Auch bei einer erforderlichen ausführlichen Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Angaben von Zeugen und/oder Mitangeklagten ist die Hinzuziehung eines Dolmetschers unzureichend (LG Kiel StV 2016, 485).
Hinweis:
Neben etwaigen Verständigungsschwierigkeiten sollen bei ausländischen Angeklagten im Rahmen der Prüfung des § 140 Abs. 2 StPO auch mögliche aufenthaltsrechtliche Konsequenzen in die Erwägungen einzubeziehen sein (LG Hof, Beschl. v. 25.11.2015 – 4 Qs 153/15). Dem wird man insbesondere in Fällen, in denen im Fall der Verurteilung eine Ausweisung droht, zustimmen können (zu aufenthaltsrechtlichen Folgen eines Strafverfahrens, Bahr, in: Burhoff/Kotz, Handbuch für die strafrechtliche Nachsorge, Teil H Rn 97).