Nach Abs. 1 dieser Vorschrift ist ein nicht begünstigender VA, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit – allerdings nach Abs. 4 der Vorschrift beschränkt auf einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme – zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt,
- dass bei Erlass des VA das Recht – abzustellen ist nicht nur auf das materielle Leistungsrecht, sondern jedenfalls auch auf die gesetzlichen Vorgaben zum Vertrauensschutz in §§ 45, 48 SGB X (s. BSG, Urt. v. 3.2.2022 – B 5 R 26/21 R, juris Rn 15 ff.) – unrichtig angewandt wurde, wobei es für die anfängliche Rechtswidrigkeit auf den Überprüfungszeitraum ankommt, sodass der rechtlichen Beurteilung u.U. eine geläuterte Rechtsauffassung zugrunde zu legen ist, die von derjenigen abweichen kann, die bei Erlass des Bescheids herrschend war (BSG, Urt. v. 30.1.2020 – B 2 U 2/18 R, NJW 2020, 3339 juris Rn 42),
- oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist
- und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht – aber nach st. Rspr. auch, wenn bewilligte und erbrachte Leistungen wieder entzogen und zurückgefordert werden (s. nur BSG, Urt. v. 3.2.2022 – B 5 R 26/21, juris Rn 11 m.w.N.)
- oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Sonstige rechtswidrige nicht begünstigende VAe (die nicht die Erbringung von Sozialleistungen oder Erhebung von Beiträgen betreffen, z.B. Ablehnung eines Antrags auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 8 SGB V, Feststellung des Vorliegens einer Behinderung und des Grads der Behinderung nach § 152 Abs. 1 SGB IX) sind nach Abs. 2 der Norm jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft (S. 1) und nach S. 2 auch für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Es handelt sich hierbei um eine überaus praxisrelevante, zentrale Verfahrensvorschrift für Leistungsberechtigte und ihre Vertreter. Die Norm stellt die verfahrensrechtliche Fortsetzung des in § 2 Abs. 2 Hs. 2 SGB I beschriebenen Ziels der "möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte" dar. Dementsprechend räumt diese Vorschrift dem Ziel der Einzelfallgerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit (Bestandskraft) Priorität ein. Die Prinzipien "Rechtsfrieden" und "Rechtssicherheit" haben demnach im Anwendungsbereich des § 44 SGB X für die Verwaltung im Sozialrecht nur eingeschränkt Bedeutung!
Für die Aufhebung – auch für die Vergangenheit – ist es unerheblich, ob der VA bereits durch Urteil bestätigt wurde, auch kann die Rücknahme wiederholt beantragt werden (BSG, Urt. v. 30.1.2020 – B 2 U 2/18 R – juris Rn 18). Auch die Rücknahme nach einem Vergleichsabschluss ist möglich, allerdings nur für die Zukunft, wenn in dem Vergleich ein Verzicht auf in der Vergangenheit liegende Ansprüche zum Ausdruck gekommen ist (s. § 46 SGB I). Die Rücknahme geschieht i.d.R. auf Antrag, unter Umständen auch erst in einem Gerichtsverfahren, in dem ein solcher Rücknahmeantrag hinsichtlich eines zeitlich früheren VA für das aktuelle Verfahren von Bedeutung ist (BSG, Urt. v. 21.3.2002 – B 7 AL 44/01 R). So kann im Verfahren wegen Erlöschen des Anspruchs auf ALG I nach § 161 Abs. 1 Nr. 2 SGB III wegen mehrerer Sperrzeiten die Rechtmäßigkeit eines früheren, bestandskräftigen Sperrzeitbescheids nach § 44 SGB X überprüft werden, wenn der Kläger diesen in Zweifel zieht. Eine Klärung hat aber auch von Amts wegen zu erfolgen, wenn Behörden die Voraussetzungen für eine Rücknahme bekannt werden.
Wichtig: Die Anwendung der Vorschrift des § 44 SGB X wird in einzelnen Bereichen des SGB ganz oder teilweise ausgeschlossen (s. näher Schütze, SGB X, § 44, Rn 46 ff. m.w.N.). Zu verweisen ist insb. auf § 330 Abs. 1 SGB III, § 40 Abs. 3 SGB II, § 116a SGB XII und § 100 Abs. 4 SGB VI.