9. Vertretung; sozialrechtliche Handlungsfähigkeit
a) Gewillkürte Vertretung
Vertretung bei der Antragstellung ist möglich; gem. § 13 SGB X ist eine Vollmacht – ggf. nachträglich – vorzulegen. Es handelt sich hierbei um Bevollmächtigung, also gewillkürte Vertretung (Vertretungsmacht durch Rechtsgeschäft, es gelten §§ 164 ff. BGB), zu unterscheiden von der gesetzlichen Vertretung.
Praktisch bedeutsam regelt § 38 SGB II die Vertretung der Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 SGB II). Soweit Anhaltspunkte nicht entgegenstehen, wird vermutet, dass der erwerbsfähige Leistungsberechtigte bevollmächtigt ist, Leistungen nach dem SGB II auch für die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen (§ 38 Abs. 1 S. 1 SGB II). Leben mehrere erwerbsfähige Hilfebedürftige in einer Bedarfsgemeinschaft, gilt diese Vermutung zugunsten desjenigen, der die Leistungen beantragt (§ 38 Abs. 1 S. 2 SGB II). Auch hier liegt gewillkürte Stellvertretung vor, die Normen der §§ 164 ff. BGB sind anwendbar. Inhaltlich erfasst die Vermutung alle Verfahrenshandlungen, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Antrags dienen, auch die Einleitung des Widerspruchs, nicht aber die Klageerhebung (BSG, Urt. v. 7.11.2006 – B 7b AS 8/06 R, Rn 29 u. BSG, Urt. v. 2.7.2009 – B 14 AS 54/08 R, Rn 22). Für diese gilt allerdings die gerichtliche Vertretungsbefugnis von Familienangehörigen nach § 73 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGG.
Eine – nicht nur vermutete – Vertretungsberechtigung für Umgangsberechtigte bei Leistungen i.R.d. Ausübung des Umgangsrechts an dem Haushalt angehörenden Kindern sieht § 38 Abs. 2 SGB II vor.
b) Sozialrechtliche Handlungsfähigkeit
Ein wirksam gestellter Antrag setzt Handlungsfähigkeit i.S.d. § 11 SGB X voraus. Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB X gelten im Wesentlichen die Grundsätze des BGB über Geschäftsfähigkeit. Betreute i.S.d. §§ 1896 ff. BGB sind geschäftsfähig, bei der Betreuung mit Einwilligungsvorbehalt (§ 1903 BGB) ist die sozialrechtliche Handlungsfähigkeit nach Maßgabe des § 11 Abs. 2 SGB X eingeschränkt. Der Einwilligungsvorbehalt besteht nach § 1903 Abs. 1 S. 1 BGB im Umfang des Aufgabenbereichs des Betreuers, sodass insoweit nur der Betreuer antragsbefugt ist.
Anträge auf Sozialleistungen kann bereits stellen, wer das 15. Lebensjahr vollendet hat (§ 36 Abs. 1 S. 1 SGB I; dann besteht Prozessfähigkeit nach § 71 Abs. 2 SGG), wobei der Leistungsträger den gesetzlichen Vertreter unterrichten muss (§ 36 Abs. 1 S. 2 SGB I). Diese Handlungsfähigkeit besteht nach § 36 Abs. 2 S. 1 SGB I aber nicht, wenn gesetzliche Vertreter durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger die Handlungsfähigkeit des Minderjährigen eingeschränkt haben. Überdies bedarf die Rücknahme von Anträgen, der Verzicht auf Sozialleistungen und die Entgegennahme von Darlehen stets der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters (§ 36 Abs. 2 S. 2 SGB I).
Die in § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I geregelte besondere sozialrechtliche Handlungsfähigkeit verdrängt in ihrem sachlichen Geltungsbereich die Befugnisse des gesetzlichen Vertreters nicht (BSG, Urt. v. 28.4.2005 – B 9a/9 VG 1/04, NJW 2005, 2574). Demnach können Eltern auch bei (bewusster oder unbewusster) Untätigkeit ihrer minderjährigen Kinder kraft ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht uneingeschränkt Sozialleistungsanträge stellen. Soweit die gesetzlichen Vertreter die rechtzeitige Antragstellung einer Sozialleistung unterlassen haben, muss sich der Berechtigte die dadurch verursachten Folgen entsprechend der in § 27 Abs. 1 S. 2 SGB X getroffenen Regelung sowie den zu § 67 Abs. 1 S. 2 SGG von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zurechnen lassen (s. aber auch BSG, Urt. v. 28.4.2005, a.a.O.)