Zusammenfassung
1. Der gegen den Nachbarn gerichtete Anspruch des Grundstückseigentümers aus § 16a NachbarG Bln auf Duldung einer grenzüberschreitenden Wärmedämmung hat einzig zur Voraussetzung, dass die Überbauung zum Zwecke der Dämmung eines bereits bestehenden, an der Grundstücksgrenze errichteten Gebäudes erfolgt. Einschränkungen des Duldungsanspruchs, wie sie die Nachbarrechtsgesetze anderer Bundesländer enthalten, können der Regelung nicht unter Rückgriff auf "allgemeine Rechtsgrundsätze" oder im Wege der verfassungskonformen Auslegung entnommen werden.
2. Zur materiellen Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bln.
BGH, Urt. v. 23.6.2022 – V ZR 23/21 (amtliche Leitsätze; ZAP EN-Nr. 512/2022)
I. Einleitung
Mit Urteil vom 23.6.2022 – V ZR 23/21 (ZAP EN-Nr. 512/2022 [Hinweis der Red.: in dieser Ausgabe]; s.a. BGH PM Nr. 101/2022 vom 1.7.2022) erkennt der BGH den gegen seinen Nachbarn gerichteten Duldungsanspruch eines Gebäudeeigentümers zu, der die an der Grenze stehende Giebelwand seines 1906 erbauten Mehrfamilienhauses mit einer 16 cm starken mineralischen Dämmschicht verkleiden möchte. Der Duldungsanspruch ergibt sich aus § 16a NachbarG Bln (Nachbarschaftsgesetz Berlin). Die Norm stellt nur darauf ab, dass das zu dämmende Gebäude auf dem Nachbargrundstück bereits besteht, also kein Neubau ist. An weitere Voraussetzungen ist der Duldungsanspruch im Unterschied zu vergleichbaren Regelungen einer zu duldenden grenzüberbauenden Wärmedämmung in anderen Bundesländern nicht geknüpft.
II. Sachverhalt
Im vom BGH zu entscheidenden Fall möchte Nachbarin A ihre grenzständig errichtete Giebelwand mit einer Wärmedämmung verkleiden. Die Parteien sind Eigentümerinnen benachbarter Grundstücke in Berlin. Das auf dem Grundstück der B stehende Gebäude ist ca. 7,5 m niedriger als das direkt angrenzende Gebäude der A, deren Giebelwand seit 1906 nicht mehr saniert wurde. A beabsichtigt, im Rahmen einer Fassadensanierung den Giebel ihrer Grenzwand mit einer 16 cm starken mineralischen Dämmung zu versehen. Für die Dauer der Arbeiten will A zu deren Durchführung ein sog. hängendes Gerüst über dem Dach des Gebäudes der B anbringen. A nimmt Nachbarin B auf Duldung in Anspruch. Denn die aufgebrachte Dämmschicht würde 16 cm in das Grundstück der B hineinragen. Das Amtsgericht und das Landgericht gaben der Klage statt. Der BGH bestätigt die Entscheidungen als Revisionsinstanz.
III. Entscheidung des Gerichts: Verfassungsmäßigkeit des § 16a NachbarG Bln?
Die beklagte Nachbarin hatte gegen den geltend gemachten Anspruch auf Duldung der grenzüberbauenden Wärmedämmung u.a. die Verfassungswidrigkeit der Anspruchsgrundlage geltend gemacht. So "ganz vom Gegenteil", also von der Verfassungsmäßigkeit der Norm in materieller Hinsicht, ist der BGH wohl auch nicht überzeugt. Gleichwohl hat der BGH kein Normenkontrollverfahren zum BVerfG angestrengt, das Verfahren also nicht gem. Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 2 S. 1 BVerfGG ausgesetzt und die Rechtsfrage zur Verfassungsmäßigkeit der Anspruchsgrundlage dort nicht zur Entscheidung vorgelegt.
Denn dies hätte die richterliche Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit vorausgesetzt (vgl. ebenso zuletzt: BVerfG, Kammerbeschl. v. 4.5.2022 – 2 BvL 1/22, juris Rn 25). Denkbare Zweifel seien dafür nicht ausreichend. In seinen Betrachtungen zur Verhältnismäßigkeit der Norm gibt der BGH einmütig mit einer entsprechenden Gewichtung auch durch das BVerfG (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.3.2021 – 1 BvR 2656/18, BVerfGE 157, 30-177, ZAP EN-Nr. 334/2021) dem aus Art. 20a GG mit Verfassungsrang abgeleiteten Klimaschutzgebot das höhere Gewicht gegenüber der Eigentümerposition des duldungspflichtigen Nachbarn aus Art. 14 GG.
Gleichwohl sei "bedenklich, dass individuelle Interessen des Nachbarn selbst dann keine Berücksichtigung finden, wenn im Einzelfall die Annahme einer Unzumutbarkeit der Duldungsverpflichtung naheläge" (s. BGH PM Nr. 101/2022). Vergleichbare Duldungsverpflichtungen in Nachbarrechtsgesetzen anderer Bundesländer gingen durch zusätzliche Voraussetzungen auf diesen Aspekt ein, nicht jedoch das hier zu beurteilende NachbarG Bln. Denn ergänzende Tatbestandsvoraussetzungen, die auch die Rechtsposition des duldungspflichtigen Nachbarn mit in den Blick nehmen, wie z.B.
- dass der Überbau die Benutzung oder beabsichtigte Benutzung des Grundstücks des Nachbarn nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt oder
- dass eine vergleichbare Wärmedämmung auf andere Weise, wie z.B. durch eine Innendämmung mit vertretbarem Aufwand nicht vorgenommen werden kann
seien nach dem Willen des Berliner Landesgesetzgebers nicht vorgesehen, um den Klimaschutz voranzubringen und nicht durch lange Streitereien zu überfrachten. "Dem Tatrichter (sei) eine Einzelfallbetrachtung selbst besonders gelagerter Ausnahmefälle (deshalb nach dem Berliner Landesrecht) verwehrt" (s. BGH PM Nr. 101/2022). "In der Gesamtschau erscheint es dem Senat durchaus möglich, dass § 16a NachbarG Bln insgesamt noch als verhältnismäßig anzusehen ist." (s. BGH, a.a.O., Rn 42).
Der BGH hat damit bereits zum wiederholten Mal eine Positionierung zur Verfassungsmäßigkeit von § 16a NachbarG Bln unterl...