Zusammenfassung
Hinweis:
Der zweiteilige Beitrag erläutert den Rechtsweg und das Vorverfahren in der Sozialgerichtsbarkeit. Teil 1 gibt eine Übersicht über den Rechtsweg zu den Sozialgerichten, dem Vorverfahren sowie den Klagearten und schließt mit Ausführung zu Fristen, Form und Inhalten der Klage. Im nachfolgenden Teil 2 (demnächst in ZAP 2023) liegt der Schwerpunkt auf Beiladung, weiteren wesentlichen Verfahrensgrundsätzen, Abschluss des Verfahrens/Rechtsmitteln, aufschiebender Wirkung und einstweiligem Rechtsschutz.
Vorschriften ohne weitere Bezeichnung sind solche des SGG.
I. Einleitung
Auch im Sozialrecht erfordert die Realisierung materiellrechtlicher Ansprüche häufig ihre gerichtliche Geltendmachung. Das (gerichtliche) Verfahrensrecht hat als Teilgebiet des „Sekundärrechts” eine Art instrumentale, dem materiellen (Primär-)Recht „dienende” Funktion. Das sozialgerichtliche Verfahren weist besondere Merkmale auf (s.u. VI.), die den Leistungsberechtigten die Durchsetzung ihrer Ansprüche erleichtern sollen und dem Einzelnen nicht nur im materiellen Sozialrecht, sondern auch im Sozialgerichtsverfahren eine starke Position einräumen.
Hinweis:
§ 2 Abs. 2 SGB I spricht davon, dass die in §§ 3–10 SGB I angesprochenen Rechte bei der Auslegung der Vorschriften des SGB und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten sind; ferner, so Hs. 2 der Norm, sei sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Diesem Gebot kann, zusammen mit anderen Vorschriften des SGB, ein Konzept der Sozialrechtsoptimierung entnommen werden (KassKomm/Spellbrink, § 16 SGB I Rn 2, § 14 SGB I Rn 4). Das BSG sieht hierin ein Gebot bürgerfreundlicher Gesetzesinterpretation (s. näher Kommentar zum Sozialrecht/Hänlein, §§ 1–10 SGB I Rn 25 m.w.N.).
Die Rechtsweggarantie des Art. 19 GG bestimmt, dass denen, die durch die öffentliche Gewalt in ihren Rechten verletzt werden, der Rechtsweg offensteht. Zu den weiteren einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben an das gerichtliche Verfahrensrecht gehört insb. der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG, der in § 62 einfachrechtlich wiederholt wird, insoweit im Unterschied zu anderen Verfahrensordnungen, die eine entsprechende Vorschrift nicht enthalten. (Zum Anspruch auf rechtliches Gehör s.u. VI.)
Die Sozialgerichtsbarkeit wird durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte, besondere Verwaltungsgerichte ausgeübt (§ 1). Nach § 2 werden als Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit in den Ländern Sozialgerichte (SG) und Landessozialgerichte (LSG) und im Bund das Bundessozialgericht (BSG) errichtet.
Das sozialgerichtliche Verfahren ist nicht ausschließlich im SGG nominiert. Vielmehr verweist dieses Gesetz häufiger etwa auch auf Vorschriften der ZPO oder des GVG. So bestimmt § 202 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 die entsprechende Anwendung des GVG und der ZPO, wenn das SGG keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, aber nur, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen.
Die nachfolgende Abhandlung bezieht sich im Wesentlichen auf das erstinstanzliche sozialgerichtliche Verfahren, dessen Vorschriften aber auch weitgehend das Berufungs- und Revisionsverfahren prägen (s. § 153 – Berufungsverfahren und § 165 – Revisionsverfahren).
Dieser Beitrag soll nur einen Überblick vermitteln und muss hierbei eine Auswahl treffen. Wegen weiterer Detailfragen ist zu verweisen auf die einschlägige Kommentarliteratur, so v.a. auf Berchtold (Hrsg.), SGG, 6. Aufl. 2020 und Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt (künftig: M-L/K/L/S/Verf.), SGG, 13. Aufl. 2020 [14. Aufl. mit Stand 1.1.2023 angekündigt]. Das Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, Hrsg. Krasney/Udsching/Groth/Messling, 8. Aufl. 2022 (künftig: HdB SGG/Verf.), enthält u.a. zahlreiche Anwendungsbeispiele und Mustertexte. Eine Vielzahl von Mustertexten zum Sozialgerichtsprozess mit Erläuterungen findet sich im Beck’schen Prozessformularbuch, 15. Aufl. 2022 (künftig: Prozessformularbuch), dort unter Abschnitt VIII. Eine umfangreiche Darstellung des sozialgerichtlichen Verfahrens hat Flint, SRH, 7. Aufl. 2022, § 13 verfasst.
II. Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit; Vorverfahren als Klagevoraussetzung
1. Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit
a) Sachliche Zuständigkeit
§ 51 bestimmt, für welche öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit offensteht. Abs. 1 der Norm bestimmt die Zuständigkeit für enumerativ angegebene Angelegenheiten. Hierzu gehören v.a. die gesetzliche Renten-, Kranken- und Unfallversicherung, die soziale und private Pflegeversicherung (s. hierzu näher M-L/K/L/S/Keller, SGG, § 51 Rn 25 ff.), die Arbeitsförderung, die Grundsicherung für Arbeitsuchende, Angelegenheiten der Sozialhilfe nebst Eingliederungshilfe nach Teil 2 des SGB IX und des AsybLG, sowie das Schwerbehindertenrecht.
Hinweise:
- Insbesondere folgende Rechtsgebiete, obwohl sie materielles Sozialrecht regeln, unterfallen nicht der Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit, sondern derjenigen der Verwaltungsgerichtsbarkeit: Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII, Ausbildungsförderung nach dem BAföG und W...