I. Existenzsicherungsrecht
1. Existenzsichernde Leistungen für EU-Zuwanderer?
a) Ausschlussklausel des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II
Nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II sind von den Leistungen nach SGB II ausgeschlossen:
- Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen (Nr. 2);
- Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr. 1).
Zur Vereinbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II mit dem Europarecht hat das BSG durch Beschluss vom 12.12.2013 (B 4 AS 9/13 R, vgl. hierzu die Sartorius/Pattar ZAP F. 18, S. 1368) das Verfahren dem EuGH vorgelegt. Dieser hat nunmehr durch Urteil vom 15.9.2015 (C-67/14, m. Anm. Padé JM 2015, 414) entschieden, dass Mitgliedstaaten zugewanderte Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, vom Bezug einer solchen Leistung ausschließen dürfen, die sich im unionsrechtlichen Sinne als "Sozialhilfe" erweist. Der EuGH sieht die deutschen Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen i.S.d. Art. 70 EGV 883/2004 und als Sozialhilfe i.S.v. Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 EG an.
Das BSG hatte in dem Vorlagebeschluss eine enge Auslegung bzw. eine Nichtanwendbarkeit des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unter dem rechtlichen Aspekt der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 39 Abs. 2 EG (Art. 45 Abs. 2 AEUV) und des Diskriminierungsverbots aus Art. 12 EG (Art. 18 AEUV) erwogen, weil die Leistungen nach dem SGB II einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern. Nach Auffassung des EuGH handelt es sich jedoch nicht um Leistungen mit solcher Zielrichtung.
Damit schließt der EuGH sich der Rechtsprechung in der Rechtssache Dano (Urt. v. 11.11.2014 – C-333/13) an (s. hierzu Schreiber info also 2015, 3), in dem der Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II gebilligt wurde, wenn der EU-Bürger nicht nach Arbeit sucht (s.a. Sartorius/Pattar ZAP F. 18, S. 1412 f.).
Das BSG hat das zum Vorlagebeschluss führende Verfahren unter dem Aktenzeichen B 4 AS 43/15 R fortgeführt und durch Urteil vom 3.12.2015 den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das LSG zurückverwiesen. Zu prüfen sei, ob den Klägerinnen ein anderes materielles Aufenthaltsrecht zustehe, das den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II entfallen lässt.
Hinweis:
Zu den nicht vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II erfassten ausländischen Personen gehören: Unionsbürger mit einem Daueraufenthaltsrecht, Selbstständige, Arbeitnehmer und Auszubildende, Familienangehörige von Ausländern, die in Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige sind und Aufenthaltsberechtigte aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen, s. Wunder SozSich 2016, 198.
b) Menschenwürdiges Existenzminimum
Die vorgenannten Entscheidungen betreffen den europarechtlichen Kontext. Verfassungsrechtlich ist jedoch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu berücksichtigen (insb. Urt. v. 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 und v. 18.7.2012 – 1 BvL 10/10). Dieses Grundrecht stellt ein Menschenrecht dar, welches gleichermaßen deutschen und ausländischen Staatsangehörigen zusteht. Es gewährt einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch der auf das sog. soziokulturelle Existenzminimum gerichtet ist.
Das BSG hat durch Urteil vom 3.12.2015 (B 4 AS 44/15 R, NJW 2016, 1464, s.a. Anm. Greiser jM 2016, 156 und Berlit juris PR-SozR 11/2016 Anm. 1; ebenso Urt. v. 3.12.2015 – B 4 AS 59/13 R) entschieden, dass die dort von einer rumänischen Familie erhobenen Leistungsansprüche zwar dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterfallen, jedoch bestehe ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII (Sozialhilfe) gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger. Zwar enthalte § 23 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 SGB XII einen mit § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vergleichbaren Ausschluss von Arbeitssuchenden von der Sozialhilfe, der im vorliegenden Fall auf die Kläger anzuwenden sei. Dies schließe aber lediglich einen Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII aus, nicht aber die Gewährung nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB II, wonach Sozialhilfe gewährt werden kann (es besteht insofern Ermessen des Leistungsträgers) soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Das BSG interpretiert diese Vorschrift aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts so, dass im Falle eines "verfestigten Aufenthalts" – der ab einem Zeitraum von sechs Monaten angenommen wird – das Ermessen in dem Sinne auf Null reduziert ist, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.
Der 14. Senat des BSG hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (Urt. v. 16.12.2015 – B 14 AS 18/14 R und B 14 AS 33/14 R).
Hinweis:
Die Bundesregierung beabsichtigt offenbar, diese Rec...