Der BGH (Beschl. v. 2.8.2017 – 4 StR 190/17, StRR 1/2018, 16 = StV 2018, 211), behandelt eine Frage, mit der sich die Gerichte mit zunehmender "Überalterung" der Bevölkerung in Zukunft ggf. öfter auseinandersetzen müssen, nämlich welche Auswirkungen eine (erstmalige) Straffälligkeit in hohem Alter auf die Schuldfähigkeit hat. Im entschiedenen Fall ist der 94 Jahre alte Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes verurteilt worden. Nach den Feststellungen der Strafkammer war der Angeklagte zuvor weder durch Sexualstraftaten noch sonst strafrechtlich in Erscheinung getreten. Hinzu kam, dass der Angeklagte eine Vielzahl auch altersbedingter gesundheitlicher Leiden hatte. So litt er an Diabetes, Herzrhythmusstörungen, Osteochrondose und den Folgen eines Schlaganfalls; auch konnte er sich aufgrund altersbedingter Mobilitätseinschränkungen nur noch mit Hilfe eines Rollators oder eines Gehstocks fortbewegen. Das LG hatte seinen Zustand insgesamt als "hochbetagt" beschrieben. Verurteilt worden ist der Angeklagte zu einer unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hatte Erfolg.
Der BGH (a.a.O.) hat rechtliche Bedenken gegen den Schuldspruch des landgerichtlichen Urteils. Das LG habe seinem Urteil ohne jegliche Erörterung die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten zugrunde gelegt, ohne die Möglichkeit eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit i.S.d. §§ 20, 21 StGB zu prüfen. Zwar bestehe nach der Rechtsprechung nicht bei jedem Täter, der jenseits einer bestimmten Altersgrenze erstmals Sexualstraftaten begeht, Anlass, der Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit oder gar einer Schuldunfähigkeit nachzugehen (vgl. BGH NStZ 1999, 297 f.; NStZ-RR 2005, 167 f.). Jedoch seien die Prüfung dieser Frage und ihre Erörterung im Urteil jedenfalls dann veranlasst, wenn neben der erstmaligen Sexualdelinquenz in hohem Alter weitere Besonderheiten in der Person des Täters bestehen, die geeignet sind, auf die Möglichkeit einer durch Altersabbau bedingten Enthemmtheit hinzudeuten (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 38). Dies hat der BGH (StRR 1/2018, 16 = StV 2018, 211) aufgrund der Umstände in der Person des Angeklagten bejaht.
Hinweise:
Die Entscheidung ist zutreffend. Es ist kaum nachzuvollziehen, warum das LG nicht selbst auf die Idee gekommen ist, ein Sachverständigengutachten zur Beurteilung der Frage einer erheblichen Verminderung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten einzuholen. Das muss jetzt in der neuen Hauptverhandlung durch einen Sachverständigen mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet des Altersabbaus erstattet werden (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 167; 2006, 38).
Der BGH hatte ersichtlich auch Bedenken hinsichtlich der nicht gewährten Bewährung (§ 56 StGB). In dem Zusammenhang weist er ausdrücklich darauf hin, dass dann, wenn auch das neue Tatgericht die Verhängung einer Freiheitsstrafe für erforderlich erachtet, es bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung erwägen muss, ob anstelle einer Bewährungsversagung andere geeignete Maßnahmen zur Verfügung stehen, um einer erneuten Straffälligkeit des Angeklagten entgegenzuwirken.