1. Garantenstellung eines Kindes gegenüber Eltern
Zwei Entscheidungen aus neuerer Zeit befassen sind sich mit der Frage, ob eine strafrechtliche Garantenpflicht eines Kindes gegenüber einem Elternteil besteht. Das ist einmal der Beschluss des BGH vom 23.10.2016 (3 StR 248/16, NStZ 2017, 401), in dem der BGH die Grundlagen für die Beantwortung dieser Frage legt. Danach begründet die in § 1618a BGB normierte familiäre Solidarität (Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht schuldig) schon von Gesetzes wegen im Eltern-Kind-Verhältnis bei faktischem Zusammenleben, wie z.B. das Zusammenleben von Mutter und Kind in häuslicher Gemeinschaft, in aller Regel eine gegenseitige Schutzpflicht, die als Garantenpflicht i.S.d. § 13 Abs. 1 StGB ggf. ein Handeln gebietet. Zu diesen Fragen hat der BGH dann noch einmal im Beschluss vom 2.8.2017 (4 StR 169/17, NJW 2017, 3609 = StRR 12/2017, 14 m. Anm. Deutscher) Stellung genommen. Danach ist bei der Beurteilung der Frage, ob eine strafrechtliche Garantenpflicht eines Kindes gegenüber einem Elternteil besteht, auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen.
Dem zuletzt genannten Beschluss vom 2.8.2017 (BGH a.a.O.) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das LG hatte den Angeklagten, der eine eigene Wohnung im selben Mehrfamilienhaus wie seine Eltern bewohnte, wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen verurteilt. Seine Mutter war ab Anfang Oktober 2015 bettlägerig und nicht mehr zur selbstständigen Nahrungsaufnahme, zur eigenständigen Körperpflege und zu Toilettengängen in der Lage. Gepflegt wurde sie von ihrem Mann, dem Vater des Angeklagten. Die Lebensbedrohlichkeit des Zustands in den letzten vier Wochen vor ihrem Tod war grundsätzlich auch für einen medizinischen Laien sicher erkennbar. Einige Tage vor ihrem Tod trat bei der Mutter infolge ihrer Bettlägerigkeit und ihres geschwächten Gesamtzustands noch eine bakterielle Lungenentzündung auf, die aber unbehandelt blieb. Zuletzt besuchte der Angeklagte seine Mutter am Vorabend ihres Todes. Zu diesem Zeitpunkt lag sie bereits in ihren eigenen Fäkalien. Der hiervon ausgehende Geruch wurde von dem Angeklagten wahrgenommen. Spätestens jetzt erkannte er nach den Feststellungen des LG den lebensbedrohlichen Zustand und die Hilfsbedürftigkeit seiner Mutter. Dennoch unterließ er es, die gebotene ärztliche Hilfe herbeizuholen. Hierbei war dem Angeklagten bewusst, dass seine Mutter versterben könnte. Er nahm diese von ihm nicht erwünschte Folge billigend in Kauf. Im Verfahren war nicht (mehr) feststellbar, ob durch ärztliche Maßnahmen am Vortag des Todestags der Mutter eine Rettung noch möglich gewesen wäre.
Die Revision des Angeklagten gegen seine Verurteilung war erfolgreich. Der BGH (a.a.O.) bejaht allerdings eine Garantenpflicht des Angeklagten/Sohns gegenüber seiner Mutter i.S.d. § 13 Abs. 1 StGB. Er sei deshalb verpflichtet gewesen, am Vortag ihres Todes geeignete Maßnahmen zur Abwendung der bestehenden Lebensgefahr einzuleiten. Der 4. Strafsenat bezieht sich dazu auf die Rechtsprechung des 3. Strafsenats (BGH NStZ 2017, 401). Aber: Im Rahmen des als Wertemaßstab heranzuziehenden § 1618a BGB sei der Gehalt der geschuldeten familiären Solidarität indes nicht einheitlich, sondern anhand der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Maßgebliche Bedeutung könnten in diesem Zusammenhang etwa das Alter, der Gesundheitszustand, die Lebensumstände und das Zusammenleben der betroffenen Personen erlangen (BayObLG FamRZ 2000, 976). Dementsprechend könnten auch mit § 1618a BGB korrespondierende strafrechtliche Einstandspflichten nicht losgelöst von der faktischen Ausgestaltung des Eltern-Kind-Verhältnisses bestimmt werden. Vielmehr sei auch bei der Konkretisierung der strafrechtlichen Einstandspflicht und bei Bestimmung des Pflichtenprogramms den Umständen des Einzelfalls und insbesondere solchen Regelungen Rechnung zu tragen, die der betroffene Personenkreis in autonomer Selbstbestimmung getroffen hat. Von diesen Grundsätzen ausgehend habe der 3. Strafsenat des BGH bei einer zwischen Elternteil und Kind bestehenden Hausgemeinschaft eine gegenseitige strafrechtliche Einstandspflicht mit der Begründung bejaht, aus der in § 1618a BGB normierten familiären Solidarität folge jedenfalls bei faktischem Zusammenleben eine Schutzpflicht i.S.v. § 13 Abs. 1 StGB (BGH NStZ 2017, 401). Ob sich eine Garantenpflicht ohne das tatsächliche Vorliegen einer effektiven Familiengemeinschaft allein aus der formal bestehenden familienrechtlichen Beziehung ergeben kann, habe der 3. Senat ausdrücklich offengelassen.
Der 4. Strafsenat (NJW 2017, 3609 = StRR 12/2017, 14 m. Anm. Deutscher) bejaht dann eine aus der Eltern-Kind-Beziehung herzuleitende Garantenstellung in objektiver Hinsicht. Der Angeklagte sei spätestens am Vorabend des Todes seiner Mutter verpflichtet gewesen, geeignete Maßnahmen zur Abwendung der bei ihr eingetretenen Lebensgefahr einzuleiten. Nach den Feststellungen des LG sei das Verhältnis des Angeklagten zu seinen Eltern über die rein formale familiäre Beziehung hinaus sowohl von besonderer räum...