In der familienrechtlichen Praxis wird der Unterhalt regelmäßig gestützt auf Durchschnittsberechnungen mit einem einheitlichen Betrag festgesetzt. Dabei werden nicht nur monatliche Einkommensschwankungen, sondern auch größere Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie Steuerrückzahlungen über einen längeren Zeitraum nivelliert; die hieran orientierten Unterhaltspflichten sind wirtschaftlich tragfähig (BGH, Urt. v. 4.7.2007 – XII ZR 141/05, FamRZ 2007, 1532).
Der so ermittelte Durchschnittswert ist Basis für die Berechnung des rückständigen und zukünftigen Unterhalts. Dabei nimmt die Praxis aus Gründen der praktischen Handhabbarkeit der Unterhaltsberechnung in Kauf, dass mit einem Durchschnittseinkommen gerechnet wird, welches die betreffende Person in der Realität nie hatte, denn in der Lebenswirklichkeit gab es Monate mit geringerem und Monate mit höherem Einkommen.
Die Unterhaltsfestsetzung für die Zukunft auf der Basis der Daten der Vergangenheit basiert bei diesem Ansatz auf einer doppelten Prognose, nämlich der Annahme, dass es bei den gleichen Einkommensverhältnissen wie in der Vergangenheit bleibt ("Es läuft so weiter wie bisher") und man dies als zuverlässig vorhersehbar einstufen kann ("Da sind wir uns sicher").
Wie lange die Gesundheitskrise mit den damit verbundenen Einschränkungen des privaten und wirtschaftlichen Lebens und der "finanziellen Durststrecke" des Betroffenen andauern wird, vermag niemand mit der gebotenen Sicherheit vorherzusehen. Nicht nur in Deutschland und Europa steigen derzeit die Corona-Fallzahlen. Weltweit melden mehrere Staaten Höchstwerte an täglichen Neuinfektionen und müssen Rückschläge im Kampf gegen die Pandemie hinnehmen.
Zudem ist von einer langfristigen wirtschaftlichen Rezession die Rede mit der Folge, dass in keiner Weise absehbar ist, ob in Zukunft überhaupt die bislang als "Normalsituation" angesehene wirtschaftliche Lage mit den entsprechenden privaten Einkommen erreicht werden wird. Wir erleben gegenwärtig den stärksten Wirtschaftseinbruch seit 50 Jahren. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte gegenüber dem Vorquartal um 10,1 %. Man geht davon aus, dass die Erholung der Wirtschaft mindestens zwei Jahre dauern wird.
Die bisher allgemein übliche methodische Vorgehensweise funktioniert in Zeiten relativer Einkommensstabilität (Schürmann, FamRB 2020, 199; Borth, FamRZ 2020, 653), kann aber nicht ungeprüft auf’die gravierenden Veränderungen durch die COVID-19-Pandemie übertragen werden. Denn ein’früheres höheres Einkommen kann nur dann – fiktiv – der aktuellen Unterhaltsberechnung zugrunde’gelegt werden, wenn der betreffenden Person wegen ihres jetzt geringeren Einkommens ein unterhaltsrechtlicher Vorwurf gemacht werden kann. Dies ist aber bei einer Corona-bedingten Einkommensverminderung kaum überzeugend zu begründen. Mit der üblichen Pauschalierung kann also seit Beginn der Corona-bedingten Einkommensausfälle auf absehbare Zeit nicht mehr gerechnet werden.
Kann aber ein früheres Einkommen nicht mehr fiktiv herangezogen werden, muss in diesen Fällen zeitgleich reagiert werden, denn nach dem Gesetz ist der Unterhalt monatsweise zu leisten (§§ 1585 Abs. 1, 1612 Abs. 3 BGB). Unterhaltsrecht ist also Liquiditätsrecht (Schürmann, FamRB 2020, 199). Damit gewinnt für die Unterhaltsfestsetzung der Grundsatz der Gleichzeitigkeit (Kongruenz, Zeitidentität) von Unterhaltsbedürftigkeit und Leistungsfähigkeit an Bedeutung. Die unterhaltsrechtlich relevante Leistungsfähigkeit muss also genau in dem Zeitraum bestanden haben, für den aufgrund der Bedürftigkeit Unterhalt verlangt wird (BVerfG, Urt. v. 7.6.2005 – 1 BvR 1508/96, FamRZ 2005, 1051). Liegt also aktuell keine oder nur begrenzte Leistungsfähigkeit vor, besteht auch für diesen Zeitraum kein oder nur ein reduzierter Unterhaltsanspruch.
Nicht akzeptabel ist in dieser Situation auch eine bloße Stundung des Unterhalts durch den Unterhaltsberechtigten (Schürmann, FamRB 2020, 199, 201). Denn dies bewirkt lediglich einen Zahlungsaufschub, also eine zeitliche Verlagerung der Zahlungspflichten und verletzt den Grundsatz der Gleichzeitigkeit (Kongruenz, Zeitidentität) von Unterhaltsbedürftigkeit und Leistungsfähigkeit.