Ob die Fähigkeit des Opfers zur Bildung oder Äußerung eines entgegenstehenden Willens i.S.d. § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB aufgehoben oder i.S.d. § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB erheblich eingeschränkt ist, wird i.d.R. gutachtlich festzustellen sein. Ab welchen Schweregrad die Einschränkung erheblich ist, gibt das Gesetz nicht vor. Das OLG Hamm hat hierzu entschieden, dass die Fähigkeit des Opfers im Vergleich zu Personen ohne Beeinträchtigung „deutlich herabgesetzt” sein muss (OLG Hamm, Beschl. v. 16.2.2021 – 4 RVs 10/21). Für die Aufhebung oder erhebliche Einschränkung kommen physische wie psychische Ursachen in Betracht, beispielsweise tiefer Schlaf, geistige Behinderung, erhebliche Alkoholisierung oder auch Bewusstlosigkeit nach dem Einsatz von K.O.-Mitteln. Erforderlich ist, dass der Täter die Widerstandsunfähigkeit des Opfers ausnutzt, was voraussetzt, dass der Täter den Zustand des Opfers und die Bedeutung für sein Vorhaben erkennt und dies bewusst einkalkuliert (BeckOK/Ziegler, § 177 Rn 18 m.w.N.). Ist die Fähigkeit des Opfers zur Willensbildung oder -äußerung nur erheblich eingeschränkt, macht sich der Täter nach dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut dann nicht strafbar, wenn er sich zuvor dessen Zustimmung versichert hat. Diese Regelung soll es generell in ihrer Fähigkeit zur Willensbildung und -äußerung erheblich eingeschränkten Personen ermöglichen, ihre Sexualität dennoch auszuleben, wenn dies ihrem natürlichen Willen entspricht (s. BT-Drucks 18/9097, S. 24).
Ein Überraschungsmoment i.S.d. § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist dadurch gekennzeichnet, dass die sexuelle Handlung unvermittelt erfolgt, ohne dass das Opfer mit einem Sexualkontakt gerechnet hätte (BeckOK/Ziegler, § 177 Rn 27). Vorausgesetzt ist, dass das Opfer grds. sehr wohl in der Lage gewesen wäre, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und zu äußern, sodass beispielsweise im Fall eines geistig behinderten Opfers nicht gleichzeitig § 177 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 StGB angewendet werden können (BGH, Beschl. v. 27.7.2021 – 1 StR 210/21, NStZ 2022, 39, 39). Auch insoweit ist mit dem Merkmal des Ausnutzens eine Voraussetzung verbunden, die über die bloße Plötzlichkeit hinausreicht. Der Täter muss erkennen, dass die Überraschung des unvorbereiteten Opfers den Sexualkontakt ermöglicht oder zumindest erleichtert (BGH, Urt. v. 13.2.2019 – 2 StR 301/18, StRR 2019, Nr. 6, 4 = NJW 2019, 2040, 2041 f.).
Hinweis:
Das Ausnutzen eines Überraschungsmoments ist beispielsweise zu bejahen, wenn der Täter im Spa-Bereich eines Hotels eine Massage durchführt und gegen Ende der, bis dahin völlig unauffälligen, Behandlung dem Opfer in den Intimbereich greift (OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 6.7.2020 – 3 Ss 107/20, NStZ 2021, 173, 174).
Eine Lage, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, also eine Bedrohungslage i.S.d. § 177 Abs. 2 Nr. 4 StGB, setzt keine ausdrückliche Drohung durch den Täter voraus (BeckOK/Ziegler, § 177 Rn 29); eine solche wird von § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB erfasst. Vielmehr muss dem Opfer das empfindliche Übel – das so zu verstehen ist wie im Nötigungstatbestand (BT-Drucks 18/9097, S. 25) – objektiv drohen (so ausdrücklich BT-Drucks 18/9097, S. 26, wobei die Vorschrift im Gesetzentwurf zunächst sogar noch allgemeiner gefasst war und eine Lage vorausgesetzt hatte, in welcher das Opfer „ein empfindliches Übel befürchtet”, s. BT-Drucks 18/8210, S. 5). Freilich sollte dennoch verlangt werden, dass das drohende empfindliche Übel in irgendeiner Weise mit dem Täter zusammenhängt. Allgemeine Lebenssituationen sind demgemäß nicht abstrakt als Nötigungslagen anzusehen, da andernfalls stets theoretisch ein empfindliches Übel drohen könnte (so zu Recht Fischer, § 177 Rn 44). Erfasst sind aber insb. sog. Klima-der-Gewalt-Fälle (BT-Drucks 18/9097, S. 26, s. näher hierzu Hörnle, NStZ 2017, 13, 18). Wiederum muss der Täter die Lage des Opfers ausnutzen und sich bewusst zunutze machen (MüKo/Renzikowski, § 177 Rn 96).
Die Drohung mit einem empfindlichen Übel i.S.d. § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB, der die sog. sexuelle Nötigung erfasst (so überzeugend BGH, Beschl. v. 10.10.2018 – 4 StR 311/18, NJW 2019, 1010, 1012), wird so verstanden wie im Nötigungstatbestand (BeckOK/Ziegler, § 177 Rn 30). Der Täter muss dem Opfer einen Nachteil von solcher Erheblichkeit in Aussicht stellen, dass die Ankündigung geeignet erscheint, das Opfer i.S.d. Täterverlangens zu motivieren (MüKo/Renzikowski, § 177 Rn 100). Das Beenden einer Beziehung dürfte zumindest unter Erwachsenen grds. kein empfindliches Übel i.d.S. darstellen (Hoven, NStZ 2020, 578, 582; MüKo/Renzikowski, § 177 Rn 100; hingegen bejahte das OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.1.2019 – 2 Ws 341/18, NStZ 2019, 350, 350 das Vorliegen eines empfindlichen Übels in einem Fall, in dem der Täter das 17-jährige Opfer mit der Beendigung der Beziehung bedroht hatte, und betonte den individuell-objektiven Prüfungsmaßstab). Die Drohung gegenüber einem Dritten ist nicht erfasst; sehr wohl aber kann sich das angekündigte Übel auf einen Dritten beziehen, s...