Der Grundtatbestand, der sog. sexuelle Übergriff, findet sich zum einen in § 177 Abs. 1 StGB, unter den sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen des Opfers fallen, sowie zum anderen in § 177 Abs. 2 StGB, der sexuelle Handlungen in ausgewählten Fällen erfasst, in denen das Opfer aufgrund persönlicher (Nr. 1 und 2) oder situativer (Nr. 3 bis 5) Umstände nicht oder nur eingeschränkt in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern. Die beiden Absätze schließen sich vor diesem Hintergrund denklogisch gegenseitig aus (MüKo/Renzikowski, § 177 Rn 190 m.w.N.).
1. Sexuelle Handlung
Der sexuelle Übergriff verlangt als sog. Hands-on-Delikt eine körperliche Berührung (die beispielsweise auch in dem Bespritzen mit Sperma liegen kann, s. AG Lübeck, Urt. v. 8.6.2021 – 61 Ds 61/11) in Form der sexuellen Handlung. Die Handlung kann bereits objektiv sexualbezogen sein, etwa wenn am Genital des Opfers manipuliert (BGH, Urt. v. 10.3.2016 – 3 StR 437/15, NStZ 2017, 156, 157) oder die Brust unterhalb der Kleidung für einige Augenblicke festgehalten wird (BGH, Urt. v. 26.4.2017 – 2 StR 580/16, NStZ 2018, 91, 92). Bei sonstigen, äußerlich ambivalenten Handlungen wie beispielsweise der Durchführung einer – vermeintlichen – medizinischen Untersuchung (BGH, Urt. v. 10.3.2016 – 3 StR 437/15, NStZ 2017, 156, 157) oder dem Ausziehen von Kleidung (BGH, Beschl. v. 23.2.2017 – 1 StR 627/16, StRR 2017, Nr. 8,3 = NStZ-RR 2017, 140, 141; für einen bereits objektiven Sexualbezug BGH, Beschl. v. 20.3.2015 – 5 StR 521/14, NStZ 2015, 457, 457) ist die sexuelle Motivation objektiv unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls gesondert festzustellen (st. Rspr., s. etwa BGH, Urt. v. 21.9.2016 – 2 StR 558/15, NStZ 2017, 528, 528; BGH, Urt. v. 7.6.2018 – 4 StR 63/18, NStZ-RR 2018, 341, 342).
Im Übrigen ist der Begriff der sexuellen Handlung unter Heranziehung von § 184h Nr. 1 StGB zu bestimmen, wonach nur solche Handlungen umfasst sind, die – nach ihrer Art, Intensität und Dauer (st. Rspr., s. nur BGH, Urt. v. 10.3.2016 – 3 StR 437/15, NStZ 2017, 156, 157; BGH, Urt. v. 26.4.2017 – 2 StR 580/16, NStZ 2018, 91, 92) – im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit sind. Bei der danach erforderlichen normativen Wertung sind insb. die Beziehung zwischen den Beteiligten und die konkrete Tatsituation zu berücksichtigen (BGH, Beschl. v. 8.2.2006 – 2 StR 575/05, NStZ-RR 2007, 12, 13). Die Erheblichkeit der sexuellen Handlung grenzt den sexuellen Übergriff von der sexuellen Belästigung nach § 184i StGB ab, die lediglich eine körperliche Berührung in sexuell bestimmter Weise voraussetzt.
Hinweis:
Auch bei einem Kuss(versuch) kann die Erheblichkeit und somit ein sexueller Übergriff zu bejahen sein, wenn der Täter das ihm völlig unbekannte Opfer in den Abendstunden auf offener Straße plötzlich am Handgelenk packt, an sich zieht, es beharrlich mit kräftigem Griff festhält und zwischendurch an eine Hauswand drückt, wobei sich das Opfer wegen seiner körperlichen Unterlegenheit nicht wehren kann (KG Berlin, Beschl. v. 2.8.2021 – 121 Ss 81/21).
2. Vornehmen oder vornehmen lassen
Der Täter kann die sexuelle Handlung eigenhändig am Opfer vornehmen; dies dürfte den praktischen Regelfall darstellen. Er kann das Opfer die sexuelle Handlung jedoch auch – an ihm oder an sich selbst – vornehmen lassen, ihm also einen Grund dafür geben, die sexuelle Handlung vorzunehmen (MüKo/Renzikowski, § 177 Rn 55).
Hinweis:
Es ist dabei nicht erforderlich, dass der Täter anwesend ist, wenn er das Opfer die sexuelle Handlung an sich selbst vornehmen lässt. Vielmehr genügt es, wenn der Täter dem Opfer etwa über einen Videochat Anweisungen zur Selbstpenetration gibt (BGH, Beschl. v. 2.7.2020 – 2 StR 226/18, NStZ-RR 2020, 276, 277).
Schließlich ist auch der Fall erfasst, dass der Täter das Opfer zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, der Täter also kommunikativ auf den Willen des Opfers einwirkt und so zumindest mitmotivierend für den Sexualkontakt zwischen Opfer und Drittem ist (MüKo/Renzikowski, § 177 Rn 59).
3. Gegen den erkennbaren Willen (§ 177 Abs. 1 StGB)
§ 177 Abs. 1 StGB trägt i.S.d. sog. „Nein-heißt-Nein”-Lösung (Schönke/Schröder/Eisele, § 177 Rn 11) Art. 36 des Übereinkommens Nr. 210 des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 5.11.2011 (sog. Istanbul-Konvention) Rechnung, der verlangt, dass nicht einvernehmliche sexuell bestimmte Handlungen unter Strafe gestellt werden (s. Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 25.4.2016, BT-Drucks 18/8210, S. 1).
Gegen den erkennbaren Willen des Opfers erfolgt die sexuelle Handlung, wenn das Opfer zuvor oder währenddessen seinen entgegenstehenden Willen für einen objektiven Dritten ersichtlich ausdrücklich oder konkludent – etwa durch Weinen, verbale Äußerungen oder körperliche Abwehr – zum Ausdruck bringt (BGH, Beschl. v. 21.11.2018 – 1 StR 290/18, NStZ 2019, 717, 718). Der nur innere entgegenstehende Wille genügt demgegenüber ebenso wenig wie das bloße Fehlen des Einverständnisses. Eine gewisse Selbstbehauptun...