Überblick über die neuere Rechtsprechung und Literatur
I. Vorbemerkung
Kopftuch, Kutte, Kippa, die Auflistung lässt sich nahezu beliebig fortsetzen. Die "Kopftuch"-Entscheidung des BVerfG aus diesem Jahr gibt Anlass zu der Frage, welche religiösen Symbole im öffentlichen Raum und damit auch im Arbeitsleben erlaubt sind.
Bereits im Jahre 2000 hat das VG Lüneburg entschieden, dass allein aus dem Tragen eines Kopftuchs das Fehlen der Eignung für den Schuldienst nicht hergeleitet werden könne (NJW 2001, 767 ff.). Ausdrücklich verneint wurde ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot. Vielmehr sei das Toleranzgebot als tragendes Prinzip freiheitlicher Demokratie zu beachten und zu befolgen.
Den juristischen "Ritterschlag" erhielt diese Entscheidung durch die Anmerkung von Böckenförde ("Kopftuchstreit" auf dem richtigen Weg?, NJW 2001, 723 ff.): Das Urteil lasse erkennen, dass das Gericht mit Umsicht einen Weg beschritten habe, der alle rechtlichen Probleme, die das Kopftuchtragen einer muslimischen Lehrerin aufwerfe, aufnehme. Es führe alle Fragen in sorgfältiger Argumentation einer Lösung zu, die nicht nur rechtlich vertretbar sei, sondern darüber hinaus in allen wesentlichen Fragen auf gesichertem verfassungsrechtlichem Boden stehe.
Auch nach der Entscheidung des VG Lüneburg hatten sich die Gerichte, insbesondere das BVerfG, wiederholt mit Kopftuch tragenden Lehrerinnen zu beschäftigen.
II. Entscheidungen des BVerfG
1. Urteil v. 24.9.2003 (2 BvR 1436/02, BVerfGE 108, 282 ff.)
Die amtlichen Leitsätze dieser Entscheidung lauten:
Zitat
- Ein Verbot, für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.
- Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein.
Das BVerfG hatte damit dem Gesetzgeber zwei Möglichkeiten eingeräumt; einerseits ein Verbot und andererseits eine Erlaubnis für das Tragen eines Kopftuchs im Unterricht zu statuieren. Interessant ist die Differenzierung zwischen abstrakter und konkreter Gefährdung: Sollen bereits bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts aufgrund des Auftretens der Lehrkraft und nicht erst ein konkretes Verhalten, das sich als Versuch einer Beeinflussung oder gar Missionierung der anvertrauten Schulkinder darstellt, als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten (Neutralitätspflicht des Beamten, Art. 33 Abs. 5 GG) oder als die Berufung in das Beamtenverhältnis hindernder Mangel der Eignung bewertet werden, so setzt dies, weil damit die Einschränkung des vorbehaltlos gewährten Grundrechts der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einhergeht, eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage voraus, die dies erlaubt (BVerfGE 108, 282, 303).
Hinweis:
In der Folgezeit entschlossen sich zahlreiche Bundesländer, der ersten Möglichkeit zu folgen und ein "Kopftuchverbot" einzuführen.
Dem 2. Senat wurde im Zusammenhang mit dieser Entscheidung vereinzelt mangelnde Präzision vorgehalten. Hinsichtlich der Frage, ob ein generell-abstraktes Verbot religiöser Bekundungen im Erscheinungsbild ohne Anknüpfung an eine konkrete Gefahr möglich sei, habe der Senat widersprüchliche und missverständliche Signale ausgesendet (vgl. Klein DÖV, 2015, 464 ff., 466).
2. Beschlüsse v. 27.1.2015 (1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10, ZAP EN-Nr. 239/2015)
Mit der aktuellen Entscheidung war nunmehr § 57 Abs. 4 SchulG NW auf dem Prüfstand. Satz 1 der Vorschrift lautet:
Zitat
"Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören."
Das BVerfG formulierte dazu folgenden zweiten Leitsatz:
Zitat
"Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen (hier: nach § 57 Abs. 4 SchulG NW) durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unverhältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags – erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss."
Zur Begründung wird u.a. ausgeführt (Rn. 111 Entscheidungsgründe):
Zitat
"Danach sind etwa christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht ausgeschlossen; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte ...