In den Sozialwissenschaften ist gut erforscht und unbestritten, dass die Kenntnis eines eingetretenen Misserfolgs das Urteil einer (strittigen) vorhergegangenen Pflichtverletzung erheblich beeinflusst (grundlegend bereits Fischhoff/Beyth, I knew it would happen: Remembered probabilities of once-future things, Organizational Behavior and Human Performance, 1975, Heft 13, S. 1 ff.).
Das ist auch in Zivilverfahren so. In welchem Umfang dieses Phänomen in zivilrechtlichen Haftungsfragen wirkt, kann (nur) durch Laborexperimente abgeschätzt werden.
Beispiel:
Ein interessantes Experiment ergab, dass nach einem Zugunglück 63 % der Probanden das Verhalten der Eisenbahngesellschaft als fahrlässig erachtet hatten, während dies ohne Kenntnis des Unglücks nur 37 % so gesehen haben (vgl. Harley, Hindsight Bias in Legal Decision Making, Social Cognition, 2007, Heft 24, S. 48 ff.). Damit hätte sich das zivilgerichtliche Haftungsrisiko – bei sonst gleichbleibenden Umständen – nur durch die nachträgliche Kenntnis des Misserfolgs verdoppelt.
In der Rechtswissenschaft ist dieses Problem seit fast 100 Jahren erkannt: "Dem Gerichte steht nach gelungenem Beweise der Verlauf der Handlung vollständig klar vor Augen (...)." Diese leicht zu erlangende Klarheit durch Metagnose, also eine Rückschau auf das, was in der Vergangenheit passiert ist, wird allzu gerne in eine leicht zu erlangende Prognose verwandelt (vgl. Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. IV, 1919, S. 646 f.).
Leider wird dieses Problem – Rückschau auf Vergangenes beeinflusst das Urteil – in der deutschen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft immer noch nicht ausreichend erforscht und beachtet. Die wesentlichen Untersuchungen stammen aus dem angelsächsischen Rechtskreis.
Wenn Wagner meint, dass die Gerichte auf der Hut sein müssten, diesen Fehler nicht zu begehen (vgl. MüKo-BGB/Wagner, 7. Aufl. 2017, § 823 Rn 816), aber durch den ex-ante-Maßstab und die BGH-Rechtsprechung, die keine absolute Sicherheit verlange, diesem Phänomen weder ignorant noch wehrlos gegenüber stünden (vgl. MüKo-BGB/Wagner, a.a.O., Rn 79), so hilft das wenig. Dass für einen Verschuldensvorwurf ein ex-ante-Maßstab gilt und absolute Sicherheit nicht geschaffen oder geschuldet werden kann, ist eine pure Selbstverständlichkeit. Das Problem besteht aber darin, dass dasjenige, was objektiv ex ante erforderlich war, ex post subjektiv durch Metagnose unbewusst verzerrt wird.
Um zu einem fairen Urteil zu kommen, müsste der Richter versuchen, sein Wissen über den tatsächlichen Ausgang der Handlung zu ignorieren. Er müsste sich fragen, was der Betroffene tatsächlich hätte wissen können und ob aus dieser Sicht der eingetretene Schaden mit zumutbaren Maßnahmen hätte verhindert werden können (vgl. Oswald, in: Bliesener/Lösel/Köhnken, Lehrbuch Rechtspsychologie, 2014, S. 252).
Zu versuchen, das tatsächliche Wissen zu ignorieren, ist freilich kaum möglich. Gegen diese unbewusste Verzerrung kann der anwaltliche Vertreter als Gegenmaßnahme daher nur, aber wenigstens
- das Problem beschreiben und benennen;
- eine genaue Prüfung einfordern, ob die realisierte Gefahr noch vom Normzweck gedeckt ist (vgl. Steinbeck/Lachenmaier NJW 2014, 2090 f.);
- auf eine Parallele im Arzthaftungsrecht hinweisen. Dort entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass der misslungene Eingriff keinen Hinweis auf einen schuldhaften Behandlungsfehler darstellt (freilich nicht wegen der Vermeidung des Rückschaufehlers, sondern weil wegen der Eigengesetzlichkeit und weitgehenden Undurchschaubarkeit des lebenden Organismus ein Fehlschlag oder Zwischenfall ein Fehlverhalten oder Verschulden des Arztes nicht allgemein indiziert (st. Rspr., vgl. bereits BGH NJW 1977, 1102 f.).