a) Grundsatz: "sorgfältige und kritische Würdigung" von Gutachten
Eine mittlerweile ältere Untersuchung von 1982, die allerdings auf Fallmaterial aus dem Jahre 1971 zurückgegriffen hat, ergab, dass in strittigen Fällen, in denen nur ein Zeuge zur Verfügung steht, das Gericht diesem einzigen Zeugen in 96,7 % der Fälle folgt (vgl. Bürkle, Richterliche Alltagstheorien im Bereich des Zivilrechts, 1984, S. 169). Reinecke hat dies – in einem viel beachteten Aufsatz zur Krise der Beweiswürdigung im Zivilprozess – dazu gebracht, von der Existenz einer geheimen Beweiswürdigungsregel zu berichten, die angeblich besagt, einem Zeugen sei grundsätzlich zu glauben, sofern nicht gewichtige Anhaltspunkte dagegen sprächen (vgl. Reinecke MDR 1986, 630 ff.).
Hinweis:
Losgelöst von aktuelleren Zahlen, die nicht bekannt sind, ist in der Praxis immer noch eine Leichtgläubigkeit gegenüber Zeugenaussagen zu beobachten. Vermutlich kann man – jedenfalls bei neutralen Zeugen – in der Praxis regelmäßig nicht anders verfahren, als die Glaubhaftigkeit der Aussage (lediglich) auf ihre Widerspruchsfreiheit zurückzuführen (vgl. Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, 2015, Kap. 31 Rn 71), was dogmatisch eine Beweismaßreduktion bedeuten müsste (vgl. Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, S. 482 ff.).
Anders sollte dies im Umgang mit gerichtlichen Gutachten sein. Auch hier ergibt eine ältere Untersuchung (ebenfalls von 1982), dass Gerichte Gutachten überwiegend frei von gravierenden Fehlern erachten (96 %) und diesen i.d.R. folgen (vgl. Pieper/Breunung/Stahlmann, Sachverständige im Zivilprozess, S. 258). Das dürfte immer noch gelten. Denn wenn ein Sachverständigengutachten eingeholt wird, entscheidet dessen Ergebnis fast ausnahmslos den Prozess (vgl. Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 3. Aufl. 2016, § 35 Rn 275 m.w.N.).
Diese These wird von Praktikern untermauert: "Auch wenn die Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens nicht zwingend erscheinen und eine andere Beantwortung der Gutachtensfragen denkbar ist, das Gutachten aber überzeugend argumentiert und sorgfältig gearbeitet ist, so wird ihm das Gericht regelmäßig ohne weiteres folgen. Wäre stattdessen ein anderer Sachverständiger in einem ebenso qualitätsvollen Gutachten zu einem anderen Ergebnis gekommen (was – bei allem Respekt vor der wissenschaftlichen Plausibilität medizinischer Erkenntnisse – selten ausgeschlossen erscheint), wäre dies zur Entscheidungsgrundlage geworden" (Stevens-Bartol, in: Medizinische Gutachten im Prozess, 3. Aufl., Kap. 4, S. 75). Diese Tatsachenlage bestätigt Schlund als Vorsitzender Richter am OLG München a.D.: "Jedem einigermaßen engagierten und erfahrenen gutachtenden Mediziner dürfte zudem bekannt sein, dass jegliche Wahrheit in der Medizin äußert relativ ist" (Schlund, in: Medizinische Gutachten im Prozess, a.a.O., Kap. 2, S. 23).
In nicht wenigen Fällen wird sich – aus Sicht eines Berufungsrichters – Folgendes sagen lassen: "Das angefochtene Urteil lässt auch nicht erkennen, dass der Erstrichter die vorgelegten Sachverständigengutachten ernsthaft geprüft hat. Seine Entscheidungsgründe beschränken sich auf eine Zusammenfassung der Aussagen der Sachverständigen, ohne diese auf ihre Richtigkeit zu prüfen" (OLG München NJW 2011, S. 3729 f.).
Hinweis:
Obwohl das Gutachten als das objektivere Beweismittel gegenüber der Zeugenaussage gilt, liefert es (wesentlich) mehr Angriffsmöglichkeiten als die Zeugenaussage. Einer Zeugenaussage kann man glauben oder nicht. Auch mit Hilfe der sog. Realkennzeichen ist es i.d.R. nicht möglich, die Wahrheit oder Unwahrheit in einer gerichtlichen Vernehmung zu erkennen (vgl. Ahrens, a.a.O., Kap. 31 Rn 71 und speziell zu den Aussagekriterien Geipel, a.a.O., § 26 und ZAP Kolumne 14/2018, S. 703 f.).
Es muss immer wieder in Erinnerung gerufen werden, dass das Gutachten des vom Gericht ernannten Sachverständigen keinen Anschein der Richtigkeit hat (vgl. OLG München r+s 2016, 153 f. [Rn 22]). Der BGH führt in seinem Urteil vom 8.7.1981 aus: "Eine derartige Erwägung wäre jedoch mit § 286 ZPO nicht in Einklang zu bringen" (BGH VersR 1981, 1151 [Rn 13]), auch wenn das BVerwG 1959 noch meinte, dass öffentlich vereidigten Sachverständigen das Privileg erhöhter Glaubwürdigkeit zukomme (BVerwG NJW 1960, 690 f.).
In der Schweiz fand 1998 eine Evaluation von medizinischen Sachverständigengutachten statt. Das Ergebnis war, dass 35 % der Gutachten einwandfrei, 36 % lückenhaft und 29 % schwer mangelhaft waren (vgl. Meine, Die ärztliche Unfallbegutachtung in der Schweiz – Erfüllt sie die heutigen Qualitätsanforderungen?, Swiss Surgery 1998, S. 53 ff.). Dieses Ergebnis wurde durch nachfolgende Studien in ähnlicher Weise bestätigt (vgl. Geipel, a.a.O., § 35 Rn 243 ff. m.w.N.) und wird auch aus berufungsrichterlicher Sicht nicht angezweifelt (vgl. Doukoff, Beck’sches Mandatshandbuch zivilrechtliche Berufung, 6. Aufl. 2018, Rn 671).
Sogar vermeintlich "objektive" Baugutachten offenbaren erhebliche Fehlerquellen. Von Kniffka, einem langjährigen Richter am BGH, erfahren wir: "Es ist leider zu beobachten, dass Gerichtsguta...